An der Schwelle zum Traum – Teil 03

Kapitel Zwölf Ein Fremder fragt nach Numan
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Es war Freitagmorgen. Numan zog sich gerade an und wollte das Haus verlassen, nachdem er sich von seiner Mutter verabschiedet hatte, als einer seiner Cousins aufgeregt auf ihn zugelaufen kam.
„Da ist ein Mann an der Tür! Er fragt nach dir!“
Numan eilte hinaus – doch kaum war er im Hof, da schloss sein Onkel bereits die Tür hinter sich mit einer kühlen Stimme:
„Da ist niemand.“
Numan runzelte die Stirn. „Aber dein Sohn hat doch gesagt, jemand wartet auf mich!“
„Der Mann ist schon weg. Wir kennen ihn nicht.“
Ein leiser Zorn stieg in Numan auf, doch er beherrschte sich. Mit ruhiger Stimme entgegnete er:
„Aber er hat nach mir gefragt. Er wollte mich abholen – ich hatte ihm versprochen, dass ich um diese Zeit bereit bin. Warum, lieber Onkel, hast du nicht erst mit mir gesprochen, bevor du so gehandelt hast?“
Die Gesichtszüge des Onkels verhärteten sich schlagartig. Die Stimme wurde scharf, fast drohend:
„Pass auf dich auf, Numan! Und auf dein Verhalten! Du gehörst zu einer ehrenwerten Familie, wir sind für unsere Anständigkeit und unseren Ruf bekannt. Und da kommen irgendwelche Fremden daher – sollen die einfach so unsere Schwelle überschreiten?! Weiß dein Großvater überhaupt von diesem Mann? Oder dein Vater? Wer ist er? Und was verbindet dich mit solchen Leuten? Warum sollte er dich abholen dürfen?! Fehlt nur noch, dass Leute wie der in unser Haus hineinspazieren – und das wegen dir! Weißt du, was die Nachbarn sagen würden? Welche Gerüchte das auslösen könnte? Du spielst mit unserem Ruf, Numan… Mit unserem guten Namen! Und wohin führt uns das? – In den Abgrund… in den Abgrund!“
Numan schwieg. Der Zorn seines Onkels war wie ein Sturm, der nicht aufzuhalten war. Worte wären sinnlos.
Die aufgebrachten Stimmen zogen den Großvater herbei. Mit scharfen, prüfenden Augen trat er näher, die Stirn leicht gerunzelt.
„Was ist los, mein Junge? Warum so laut?“
Der Onkel war sofort zur Stelle, klagte los:
„Ein fremder Mann, ungefähr in meinem Alter, vielleicht älter – elegant gekleidet, fährt einen teuren Wagen, spricht nicht wie wir, und eine junge Frau begleitet ihn – ich sage lieber nicht, wie sie angezogen war… Und dieser Mann… er fragt nach Numan! Er behauptet, sie hätten einen wichtigen Termin! Sag selbst, Vater, hättest du erlaubt, dass dein Enkel mit so einem Menschen mitgeht?!“
Der Großvater wandte sich Numan zu. Seine Augen suchten keine Verteidigung – sie suchten Wahrheit.
Und Numan, mit einem stillen Schmerz in der Stimme, antwortete leise:
„Er ist schon gegangen, Großvater. Es hat keinen Sinn mehr, darüber zu sprechen…“
Der Großvater bestand darauf. Mit einer leichten Geste bat er seinen Enkel in sein Zimmer – ein Raum, der vom Glanz der Mosaike und Silberfäden lebte. Dort schenkte er ihm ein Glas Tee ein und sagte mit sanfter Stimme:
„Erzähl mir alles, mein Junge… Fürchte dich nicht.“
Während sie sprachen, erschien Numans Mutter zögerlich an der Tür. Sie wollte ihren Sohn mitnehmen. Doch der Großvater winkte beide freundlich hinein und bot auch ihr Tee an.
Die Mutter lehnte ab, mit leiser, aber fester Stimme:
„Bitte, Onkel. Ich will keinen neuen Streit mit deinem Sohn. Ich habe lange geschwiegen – um meines Mannes willen und aus Respekt vor dir… Aber wenn es um meinen Sohn geht, werde ich nicht länger stillhalten! Wenn dein Sohn sich weiter in unser Leben einmischt, verlasse ich das Haus mit meiner Familie. Und sei es nur in ein kleines gemietetes Zimmer. Und er – und alle anderen – sollen wissen: Wir haben keinerlei Ansprüche auf das, was du eines Tages hinterlassen wirst. Sie sagen doch selbst, mein Mann habe bereits alles erhalten, was ihm zusteht.“
Der Großvater lächelte ruhig und antwortete:
„Gut… Dann trinken wir nun zusammen unseren Tee. Und Numan wird mir alles in Ruhe erzählen.“
Sie setzten sich. Numan begann zu erzählen. Als er geendet hatte, erklang draußen das durchdringende Hupen eines Autos.
Mit Tränen, die in seinen Augen gefroren, sagte Numan:
„Da ist er… Großvater. Du kannst ihn selbst fragen.“
Der Großvater erhob sich und bat alle, im Zimmer zu bleiben. Dann ging er hinaus, um den Mann zu empfangen. Gemeinsam betraten sie das Zimmer. Der Mann – es war Herr Ahmad – ließ seinen Blick kurz durch den Raum gleiten, auf die Möbel, die Teppiche, die Bücherregale. Nach einem kurzen Gespräch wandte sich der Großvater an Numan:
„Komm, mein Sohn… Dieser Mann ist unser Gast. Du wirst ihn begleiten und helfen, wo du kannst.“
Mit einem ruhigen Nicken verabschiedete sich Numan von seiner Mutter und seinem Großvater und verließ mit Herrn Ahmad das Haus – Richtung Damaskus.
In Damaskus trafen sie sich mit dem Besitzer eines Immobilienbüros. Gemeinsam fuhren sie weiter zu einer Moschee im Stadtteil al-Mazza. Nach dem Freitagsgebet versammelten sie sich vor dem Eingang, wo der Bauherr bereits auf sie wartete.
Zwei Autos folgten dem Wagen des Bauherrn, bis sie eine breite Allee mit Bäumen auf beiden Seiten erreichten. Vor einem neu errichteten Gebäude, das von einem weiten, grünen Garten umgeben war, hielten sie an.
Der Bauherr öffnete die Eingangstür und fragte:
„Welches Stockwerk möchten Sie sich ansehen? Erdgeschoss, erstes oder zweites?“
Herr Ahmad antwortete mit ruhigem, professionellem Ton:
„Wenn möglich, möchten wir alle Optionen sehen.“
Doch der Bauherr klärte schnell:
„Alle Wohnungen stehen nur zum Verkauf – nicht zur Miete. Wir haben den Bau erst kürzlich abgeschlossen, und ich brauche die Einnahmen für ein neues Projekt.“
Herr Ahmad trat näher heran und sagte:
„Ich bin Bauingenieur. Vielleicht ergeben sich zukünftige Kooperationen, wenn wir hier eine Wohnung erwerben.“
Sie begannen mit der Besichtigung des Erdgeschosses. Der Bauherr übergab ihnen die Schlüssel, um die anderen Wohnungen mit dem Immobilienmakler anzuschauen, und entschuldigte sich – er müsse kurz weg.
Numan beugte sich leicht zu Herrn Ahmad und flüsterte vorsichtig:
„Glaubst du nicht, dass Muna dabei sein sollte, um mitzuentscheiden? Vielleicht hat sie eine ganz andere Meinung…“
Herr Ahmad nickte zustimmend. Er bat den Bauherrn um Erlaubnis, seine Tochter anzurufen. Dieser begleitete ihn zu einer nahegelegenen Telefonzelle. Nach einem kurzen Gespräch kehrte er zurück und sagte entschuldigend:
„Gebt mir bitte eine halbe Stunde… Ich bringe meine Tochter mit.“
Numan saß auf der Kante des Eingangs, neben dem Immobilienmakler. Beide warteten schweigend auf die Rückkehr von Herrn Ahmad und seiner Tochter Muna, während die Sonne langsam dem Horizont entgegenkroch und die Schatten der Bäume wie ein leises Versprechen der Geduld über den Gehweg legte – als wolle der Tag ihnen noch einen Moment Ruhe schenken, ehe sich das Bild vollendete.
Nach etwa einer halben Stunde erschienen Herr Ahmad und Muna. Ohne große Worte traten sie mit dem Makler in die Erdgeschosswohnung ein. Numan aber blieb draußen sitzen – bis Herr Ahmad, vom Fenster aus, eine einladende Geste machte. Zögernd erhob sich Numan und folgte ihnen.
Die Wohnung war großzügig geschnitten, wohl an die zweihundertfünfzig Quadratmeter groß. Die Zimmer verteilten sich elegant um einen offenen Grundriss, jedes mit eigenem Bad. Ein breiter Seitenflur führte zu einer geräumigen Küche.
Im Zentrum der Wohnung lag ein stilvoll eingerichtetes Wohnzimmer mit einer eingelassenen Wandkaminanlage. Große Fenstertüren öffneten sich zu einer weitläufigen Terrasse, die direkt in einen üppigen Garten überging. Sonnenlicht strömte durch die Scheiben und durchflutete den Raum mit einer sanften Klarheit.
Am nächsten Morgen ging Numan der Gedanke nicht aus dem Kopf: So ein Zuhause – mit dieser Weite, diesen feinen Details, dieser stillen Pracht – war ihm bis dahin fremd gewesen. Er konnte sein Staunen kaum verbergen, hielt sich jedoch zurück, als Herr Ahmad ihn nach seiner Meinung fragte. Stattdessen lauschte er aufmerksam dem Gespräch zwischen Vater und Tochter.
Muna war nicht ganz überzeugt. Manchmal erhob sie die Stimme, manchmal murmelte sie kaum verständliche Worte – besonders dann, wenn der Makler einen neuen Vorschlag einwarf. Herr Ahmad ließ sich davon nicht beirren und bat schließlich darum, die weiteren Wohnungen zu sehen.
Sie besichtigten noch eine Wohnung im ersten Stock und eine weitere im zweiten. Nach gut zwei Stunden standen sie wieder draußen. Der Eigentümer trat auf sie zu, höflich, aber bestimmt: „Haben Sie sich entschieden?“ Herr Ahmad antwortete zurückhaltend. Man brauche noch etwas Zeit, doch die Erdgeschosswohnung sei momentan Favorit. Der Makler nickte verständnisvoll und bat sie, sich zu melden, sobald sie bereit seien, die Verhandlungen im Büro zu führen.
Da er an diesem Tag keine weiteren Termine mehr wahrnehmen konnte – der Tag sei lang gewesen, sagte er müde –, einigten sich alle Parteien auf den nächsten Nachmittag, halb drei, im Büro. Mit dabei: alle erforderlichen Unterlagen.
Pünktlich um zwei Uhr saß Numan am nächsten Tag neben Herrn Ahmad im Auto. Gemeinsam fuhren sie zum Büro.
Der Makler empfing sie mit herzlicher Gelassenheit. Er winkte einem seiner Mitarbeiter, Tee zu bringen. Dann setzte er sich hinter seinen massiven Schreibtisch, neben ihm ein großer Stahlschrank und ein lautlos laufender Fernseher, auf dem ein Naturdokumentarfilm flimmerte. Der Tee war kaum serviert, da betrat auch der Eigentümer den Raum – in der Hand ein Umschlag mit sämtlichen Papieren.
Das Gespräch begann zu dritt. Der Makler führte es mit sachlicher Ruhe. Der Verkäufer forderte fünf Millionen, Herr Ahmad bot dreieinhalb. Numan schwieg. Er ließ seinen Blick zwischen den Gesichtern wandern, folgte den Argumenten, dem Rhythmus des Aushandelns. Der Ton blieb respektvoll, doch keine Seite wollte sich bewegen – der eine senkte nicht, der andere erhöhte nicht.
Schließlich wandte sich Herr Ahmad an Numan und bat ihn um seine Meinung. Numan schlug einen Kompromiss vor – einen Preis, der zwischen den Vorstellungen beider Seiten lag. Herr Ahmad lächelte und erklärte sich einverstanden, obwohl der Betrag über dem lag, was er sich ursprünglich erhofft hatte.
Der Wohnungseigentümer, mit dem kurz telefoniert wurde, stimmte dem Vorschlag zu – unter der Bedingung, dass der gesamte Betrag bei Vertragsunterzeichnung gezahlt werde. Herr Ahmad akzeptierte sofort und schlug vor, ein Viertel der Summe sowie die Maklerprovision noch am selben Tag zu entrichten – im Gegenzug für die Schlüsselübergabe.
Alles schien auf ein glückliches Ende zuzusteuern – bis sich der Makler einmischte. Er erinnerte daran, dass Herr Ahmad laut seinem Ausweis nicht berechtigt sei, in Syrien Eigentum zu erwerben.
Da wandte sich Herr Ahmad ruhig an Numan und bat ihn, die Wohnung auf seinen Namen eintragen zu lassen. Numan zögerte einen Moment, doch Herr Ahmad sprach ihm beruhigend zu – dann überreichte er ihm mit einem Lächeln seinen Ausweis.
Der Makler begann sofort, die Vertragsbedingungen zu ergänzen – unter anderem eine Konventionalstrafe von bis zu einer Million syrischer Lira im Falle eines Vertragsbruchs.
Herr Ahmad ging zum Auto zurück und kehrte mit einer schwarzen Tasche zurück. Er öffnete sie, legte ein großes Bündel Geld auf den Tisch und sagte ruhig:
„Hier sind eine Million zweihundertfünfundsiebzigtausend syrische Lira – davon eine Million zweiundsechzigtausendfünfhundert als erste Zahlung, der Rest als Provision für das Büro.“
Jeder erhielt seinen Anteil. Der Verkäufer, der Käufer, Numan und der Makler – alle unterschrieben. Jeder nahm eine Kopie mit, dann schüttelten sie sich herzlich die Hände. Herr Ahmad nahm die Schlüssel entgegen, während Numan sich verwundert umsah – als könne er nicht glauben, was gerade geschehen war:
„War das ein Traum – oder Wirklichkeit?“
Zwei Tage nach der Unterzeichnung des Vertrags klingelte Numans Handy. Am anderen Ende war der Makler, der ihn bat, sofort mit Herrn Ahmad ins Büro zu kommen.
Numan bat seinen Meister, Haj Abu Mahmoud, um zwei Stunden Freistellung – es war fast Mittag. Der Meister stimmte zu, bat ihn jedoch, pünktlich zum Beginn der Nachmittagsschicht zurück zu sein.
Numan machte sich auf den Weg zu Herrn Ahmad und berichtete ihm, dass der Makler ihn mehrfach angerufen hatte – aber da sein Telefon ständig besetzt gewesen sei, habe er schließlich im Laden angerufen und um ihr sofortiges Erscheinen gebeten.
Sie fuhren gemeinsam in Herrn Ahmads Wagen zum Büro. Dort erwartete sie bereits der Wohnungseigentümer. Nach einer kurzen Begrüßung nahmen alle Platz, und der Makler eröffnete das Gespräch: Der Eigentümer wünsche die einvernehmliche Auflösung des Vertrags – oder aber, dass Herr Ahmad freiwillig auf die Vereinbarung verzichte, ohne Anspruch auf Vertragsstrafe.
Herr Ahmad reagierte überrascht und bat um eine Erklärung. Doch der Eigentümer wich aus und weigerte sich, einen Grund zu nennen.
Es folgte eine angespannte Diskussion, die über eine Stunde andauerte. Mal redeten der Makler und Herr Ahmad auf den Eigentümer ein, mal diskutierten der Eigentümer und der Makler untereinander. Schließlich schlug Numan vor, die Entscheidung um zwei Stunden zu vertagen – und riet Herrn Ahmad, nach Hause zurückzukehren, um das Thema mit seiner Tochter Muna zu besprechen:
„Frag sie, was sie denkt – ob du loslassen oder festhalten sollst.“
Die Rückkehr ins Haus war von einer stillen Spannung begleitet. Herr Ahmad und Numan betraten das Wohnzimmer, wo Muna bereits wartete. Sie blickte auf, als ihr Vater begann, die Ereignisse des Tages zu schildern. Seine Worte waren ruhig, doch in seinem Ton lag eine unterschwellige Dringlichkeit.
„Numan schlug vor, die Entscheidung zu vertagen, bis du deine Meinung dazu äußern kannst“, schloss er seinen Bericht.
Muna wandte sich zu Numan, der in einer Ecke des Raumes saß und gedankenverloren auf den Bildschirm des Projektors starrte. Sie wusste, dass er in solchen Momenten selten das Gespräch suchte. Dennoch trat sie langsam auf ihn zu, beugte sich leicht zu ihm hinunter und flüsterte:
„Zum zweiten Mal bringst du mich in die Lage, dir danken zu müssen.“
Numan reagierte nicht sofort. Sein Blick blieb auf den flackernden Bildern des Projektors haften, als ob er in einer anderen Welt verweilte.
Muna richtete sich wieder auf und kehrte zu ihrem Vater zurück. „Ich möchte die Wohnung nicht aufgeben“, sagte sie bestimmt. „In den letzten zwei Tagen habe ich mir vorgestellt, wie ich sie einrichten würde. Außerdem habe ich lange Gespräche mit meinen Tanten in Beirut geführt. Eine von ihnen bat mich sogar, nach einer ähnlichen Wohnung für sie zu suchen, damit sie ihre Urlaube künftig hier verbringen können.“
Herr Ahmad lächelte bei diesen Worten. „Hat sie das wirklich gesagt?“
„Ja“, bestätigte Muna. „Gestern Abend während unseres Telefonats.“
Ohne zu zögern, griff Herr Ahmad zum Telefon und bat um eine internationale Verbindung. Wenige Minuten später sprach er mit dem Ehemann seiner Schwägerin. Er erkundigte sich, ob tatsächlich Interesse an einer Wohnung in Damaskus bestehe. Der Mann bestätigte dies und erklärte, dass seine Frau den Wunsch geäußert habe, näher bei Muna zu sein, da sie eine Veränderung in deren Verhalten bemerkt habe und hoffte, durch die Nähe die frühere Vertrautheit wiederherzustellen.
Herr Ahmad informierte ihn darüber, dass im selben Gebäude zwei Wohnungen zum Verkauf stünden und schlug vor, dass er am nächsten Morgen nach Damaskus komme, um sie zu besichtigen. Er bat ihn auch, einen Betrag von fünf Millionen syrischen Pfund zu überweisen, um den Kauf zu sichern.
Nachdem das Gespräch beendet war, wandte sich Herr Ahmad an Numan. „Bitte geh zurück zum Maklerbüro und nimm die schwarze Tasche unter Munas Bett mit.“
Numan nickte, stand auf und verließ das Haus, um zu seiner Arbeit zurückzukehren.
Herr Ahmad machte sich allein auf den Weg zum Büro. Dort traf er den Eigentümer der Wohnung und den Makler an. Er setzte sich dem Eigentümer gegenüber und fragte:
„Wie viel verlangen Sie für die Wohnung im ersten Stock?“
Der Mann antwortete offen: „Ich möchte das gesamte Gebäude auf einmal verkaufen und bin bereit, die Eigentumsübertragung innerhalb einer Woche abzuschließen.“
Herr Ahmad überlegte kurz. „Ich versuche, gemeinsam mit einigen Verwandten das Gebäude zu erwerben, aber derzeit fehlt mir ein Teil der benötigten Summe. Bisher habe ich nur genug für zwei Wohnungen.“ Er zog den Vertrag aus seiner Tasche und legte ihn auf den Tisch. „Hier ist der Vertrag. Ich werde ihn Ihnen übergeben, sobald Numan anwesend ist, da er als Zeuge bei der Unterzeichnung dabei war. Ich möchte lediglich den Betrag zurück, den ich vor zwei Tagen gezahlt habe, und verzichte auf jegliche Vertragsstrafen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“

Der Bauherr lehnte sich leicht nach vorn und sprach mit einem Ausdruck entschlossener Offenheit:
„Ich will Ihnen etwas sagen: Ihre Ehrlichkeit und Ihr Auftreten haben mir gefallen. Aber ich muss das ganze Gebäude schnell verkaufen, weil ich bald ein neues Bauprojekt beginne. Wenn Sie bereit sind, innerhalb einer Woche den Kauf abzuschließen und den Betrag sofort zu zahlen, kann ich es Ihnen – noch in dieser Sitzung – überlassen.“
Herr Ahmad zögerte keine Sekunde. Er griff zum Telefon, führte ein kurzes Gespräch, legte auf und wandte sich dem Bauherrn ruhig zu:
„Was ist Ihr Preis?“
Ein langes Gespräch folgte – ruhig, aber intensiv –, das schließlich ohne Einigung endete. Bevor sie auseinandergingen, bat Herr Ahmad um ein weiteres Treffen am nächsten Tag, um halb drei nachmittags.
Später am Abend kehrte er schweigend nach Hause zurück, ein Schatten lag auf seinem Gesicht. Als seine Tochter Muna ihn fragend ansah, rang er kurz mit sich. Dann sagte er mit unsicherer Stimme:
„Numan hat mich nur bis zum Eingang begleitet. Danach ist er zurück zur Arbeit. Ich war dann allein im Immobilienbüro, ganz auf mich gestellt … und vielleicht war das der Grund, warum ich nicht weitermachen konnte. Ich kenne mich hier nicht aus. Wenn Numan nicht bei mir ist, werde ich diese Wohnung wohl nie bekommen.“
Muna hob die Augenbrauen, ihre Stimme war fest:
„Warum? Wer ist er denn, dass du dich so abhängig von ihm machst? Er verfolgt dich in deinen Gedanken, egal wohin du gehst!“
Herr Ahmad lächelte sanft.
„Weil mit ihm alles einfacher wird. Was kompliziert scheint, verliert in seiner Nähe seine Schwere. Bitte, meine Tochter, sieh ihn einmal so, wie ich ihn sehe. Höre ihn mit meinen Ohren, beobachte, wie die Dinge fließen, wenn er dabei ist – und wie sie stocken, wenn er fehlt.
Er ist still – aber in ihm tobt ein Vulkan. Und trotz all seiner inneren Kämpfe trägt er stets ein Lächeln. Ein junger Mann mit einer alten Seele. Er leidet – und doch wirkt er stärker als Berge.“
Er fuhr nachdenklich fort:
„Und dazu kommt: Er ist gebildet. Du suchst doch schon seit Monaten nach genau diesem Stoff – aus dem Kleid deiner Mutter –, in Beirut, in Damaskus. Und nur bei ihm haben wir ihn gefunden. Und nur mit seiner Hilfe konnten wir ihn kaufen.
Erinnerst du dich an unser Mittagessen am Ufer des Barada? Wie du seine Ausdrucksweise mochtest? Was ist nur geschehen, dass ihr euch nun fremd seid?“
Muna zog leicht eine Augenbraue hoch.
„Aber ist er nicht… dumm? Hat mich ignoriert, vermieden. Ich hatte ihn gebeten, sein Notizbuch mit seinen Gedichten zu bringen – er hat es einfach ignoriert! Und wie kühl war er in letzter Zeit! Ich glaube, er hat all das nur vorgetäuscht!“
Ahmad lachte leise, voller Milde:
„Vielleicht. Aber haben wir ihn je gefragt, warum? Wir sollten nicht vorschnell urteilen. Weißt du, was ich getan habe? Ich habe seinem Chef heimlich Geld gegeben, mit der Bitte, es Numan zu überreichen. Doch obwohl er wusste, dass ich dahinterstecke, hat er es abgelehnt. Du hast es selbst erlebt – selbst den kleinen Betrag, den du ihm gegeben hast, hat er nicht angenommen.“
Dann senkte er die Stimme und sprach beinahe wie im Vertrauen:
„Und ich muss dir noch etwas erzählen. Bevor wir nach Beirut zurückkehrten und beschlossen, Damaskus nicht mehr zu besuchen, bot ich ihm an, ihn morgens und abends zur Arbeit zu fahren – nur um mehr Zeit mit ihm zu verbringen, ihm näherzukommen. Er lehnte höflich ab, ohne mir dabei zu nahe zu treten.
Er ist vorsichtig – einer, der lieber Abstand hält, wenn er spürt, dass eine Situation zu kompliziert werden könnte. Erinnerst du dich? Zwei Tage im Hotel, kein Zeichen von ihm – obwohl er wusste, dass wir zurück waren. Und als ich ihn schließlich bat, mir bei der Wohnungssuche zu helfen, kam er sofort. Ohne zu zögern. Er führte mich zum Makler, suchte die Wohnung für uns aus, damit wir in seiner Nähe bleiben konnten.
Und als ich dem Makler eine Provision für ihn vorschlug, nahm er sie an – doch noch vor Einbruch der Nacht brachte er das Geld zurück. Er sagte, es sei ein Preisnachlass, von dem ich nichts wusste.
Mein Kind, dieser Junge ist integer. Ehrlich. Vertrauenswürdig. Und – hast du es bemerkt? – er hat eine gewisse Schönheit, eine stille Ausstrahlung …
Aber ich habe Angst. Ohne ihn scheitert alles. Wir könnten die Wohnung verlieren – unser kleines Stück Damaskus, von dem wir so lange geträumt haben.
Versteh mich bitte richtig: Wenn du seine Anwesenheit nicht ertragen kannst … dann kehren wir besser zurück nach Beirut.“
Muna schüttelte den Kopf und sagte mit fester Stimme:
„Nein, Vater, ich möchte nicht nach Beirut zurückkehren. Bitte frag mich nicht nach dem Grund – du kennst ihn. Aber ich habe das Gefühl, dass du Herrn Numan in eine Position stellst, die mich glauben lässt, er stünde zwischen dir und mir, als wäre er dein bevorzugter Sohn.“
Herr Ahmad seufzte sanft und erwiderte mit liebevoller Stimme
„Vergiss nicht, du bist meine Tochter, und unsere Anwesenheit hier in Damaskus basiert auf deinem Wunsch.“
Er wandte sich ihr erneut zu und fuhr fort:
„Was die Position betrifft, die du ansprichst, denke ich, dass du vielleicht eifersüchtig auf ihn bist. Ich bevorzuge dich keineswegs weniger als irgendjemanden sonst, und das weißt du. Du bist meine einzige Tochter.“
Muna antwortete:
„Ich verstehe, was du sagst, Vater, und du hast recht. Aber ich kann ihn einfach nicht akzeptieren, so wie er ist. Ich habe deinen Wunsch erfüllt, ihn zum Essen einzuladen, und auch das Mittagessen am Ufer des Barada – du hast gesehen, wie ich mich bemüht habe, freundlich zu sein, alles nur deinetwegen.“
Ihr Vater fragte:
„Möchtest du wissen, was er denkt? Um zu verstehen, wie er fühlt? Vielleicht hilft uns das, unsere Situation besser zu bewältigen. Wir stehen vor einer schwierigen Entscheidung bezüglich des Hauses. Bist du einverstanden?“
Muna nickte:
„Ja, aber was hast du geplant?“
Er lächelte:
„Ich werde es dir erklären… Wir gehen gemeinsam zu ihm.“
Am nächsten Mittag informierte Abu Mahmoud Numan, dass er wegen eines dringenden Anliegens den Laden verlassen müsse und heute nicht zurückkehren könne. Kurz nachdem er gegangen war und Numan seine Arbeit fortsetzte, trat Muna zögernd ein. Sie näherte sich ihm langsam und winkte ihm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
„Entschuldige bitte“, sagte sie leise, „ich möchte dich zu einer Tasse Kaffee einladen, an einem Ort deiner Wahl.“
Numan war überrascht und wusste nicht sofort, wie er reagieren sollte. In ihren vorherigen Begegnungen hatte sie nie so mit ihm gesprochen.
„Es tut mir leid, Fräulein“, antwortete er schließlich, „aber ich habe heute und morgen keine Zeit. Ich kann den Laden nicht schließen, da mein Meister heute wegen eines dringenden Anliegens gegangen ist und nicht zurückkehren wird.“
Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Muna folgte ihm langsam und sprach mit leiser Stimme weiter.
Nach einigen Minuten betrat Herr Ahmad den Laden und begrüßte sie. Muna wandte sich ruhig an ihn:
„Papa, ich habe mich bei Herrn Numan entschuldigt, wie du es wolltest, und ihn eingeladen, mit mir einen Kaffee zu trinken, an einem Ort seiner Wahl. Aber er hat abgelehnt, weil er keine Zeit hat.“
„Was hältst du davon, zwei Tassen Kaffee zu machen, während ich kurz etwas aus dem Auto hole? Wir rauben dir nicht viel Zeit“, sagte Herr Ahmad mit einem freundlichen Lächeln und klopfte Numan sanft auf die Schulter.
Er verließ das Geschäft, ging gemächlich zu seinem nahe geparkten Wagen und begann, im Handschuhfach nach etwas zu suchen.
Numan trat in das kleine Hinterzimmer, um den Kaffee zuzubereiten. Er nahm die Tassen aus dem Regal, als plötzlich Muna eintrat – langsam, fast zögerlich, mit dem Vorwand, beim Suchen der Tassen helfen zu wollen. Schritt für Schritt kam sie näher, bis sie ihn schließlich in einer engen Ecke des Raumes umhüllte. Ohne jede Vorwarnung lehnte sie sich leicht zu ihm vor, hob ihr Gesicht, und flüsterte mit einer Stimme, weich wie Seide, in sein Ohr:
„Grüß dich, du Süßer. Der kleine große Mann – mit Haltung, mit Werten. Du hast dich in mein Innerstes geschlichen, gegen meinen Willen. Und ich konnte dich nicht wieder loslassen. Ich konnte nicht verhindern, dass deine Stärke mich überflutet hat… und du hast bis jetzt noch nicht ganz verstanden, was du mit mir gemacht hast.“
Numan errötete. Sein Blick irrte umher. Kein Wort kam über seine Lippen. Er stellte die Tassen ab, so als hätte er vergessen, wozu er sie in der Hand hielt, und verließ fluchtartig den Raum.
Muna folgte ihm. Sie stellte sich ihm in den Weg, ruhig, fest, mit einem Ausdruck von Klarheit in den Augen:
„Ich schäme mich nicht für das, was ich gesagt habe – oder getan habe. Und ich werde es nicht zurücknehmen.“
Einen Moment lang schwieg sie. Dann sagte sie mit einer neuen Wärme in der Stimme:
„Ich will dir nichts aufzwingen. Ich wollte nur, dass du es weißt. Mein Vater hat heute entschieden, dass wir endgültig nach Beirut zurückkehren. Aber ich kann dieses Land nicht mehr verlassen, nicht nach allem. Du hast mein Herz aus dem Takt gebracht, Numan. Ich weiß, was dir durch den Kopf geht. Ich weiß, dass du über Gefühle nicht leicht sprichst. Das ist für dich genauso neu wie für mich.“
Sie trat einen Schritt näher.
„Ich habe mit meinem Vater lange und offene Gespräche geführt. Ich habe durch ihn mehr über dich erfahren – durch seine Worte, durch das, was andere über dich sagen. Ich habe es gesehen. Ich habe es gefühlt. Und glaub mir, Numan… ich will nichts von dir, wenn du nichts fühlst. Ich verlange kein Wort, keine Erwiderung. Nur… lass uns nicht auseinandergehen mit ungesagten Dingen in unseren Herzen. Selbst wenn es nur ein einziges Wort ist, das unausgesprochen bleibt – es kann ein Leben lang nachhallen.“
In diesem Moment trat Herr Ahmad mit einem entspannten Lächeln ein:
„Ich bin fertig. Und ihr? Ist der Kaffee schon bereit?“
Muna warf einen schalkhaften Blick auf Numan und sagte mit einem Hauch von Ironie:
„Manche Menschen verweigern uns nicht nur einen Kaffee, sondern auch ein ehrliches Wort, das uns glücklich machen könnte.“
Zwischen ihnen entstand eine kurze Stille. Numan stand wie versteinert, seine Gedanken noch wirbelnd. Herr Ahmad durchbrach die Pause, reichte Numan eine Visitenkarte und sagte herzlich:
„Das ist unsere Adresse in Beirut. Wir freuen uns auf deinen Besuch. Auf Wiedersehen.“
„Hast du die Wohnung und den Vertrag vor der Reise geregelt?“ fragte Numan leise, während er sich neben Herrn Ahmad setzte.
Dieser wandte sich erstaunt seiner Tochter zu. „Wie konnten wir das nur vergessen!“ murmelte er, zog das gefaltete Dokument aus der Jackentasche und bat Numan um einen Stift. Numan reichte ihm einen, der noch vom Schreibtisch seines alten Meisters stammte.
Herr Ahmad lächelte leicht. „Ich übertrage dir den Vertrag. Kümmere dich bitte mit dem Büro und dem Verkäufer um die nächsten Schritte. Du hast das Recht, die Vertragsstrafe samt der Anzahlung und der Maklerprovision einzufordern, oder aber den Vertrag ganz aufzulösen – ganz ohne Verpflichtungen. Du kannst die Wohnung auch zum Preis deiner Wahl weiterverkaufen oder sie behalten und die Restzahlung gemäß den Vertragsbedingungen leisten.“
Numan schaute ihn ernst an. „Und was ist mit dem Treffen wegen des Bauherrn, mit dem du dich gestern nicht einigen konntest? Wann ist das nächste Gespräch?“
Ahmad runzelte die Stirn. „Du hast wohl mit dem Büro gesprochen. Einer von beiden hat dir sicher schon erzählt, was passiert ist.“
„Nein“, entgegnete Numan ruhig. „Aber du sagst es mir gerade selbst: Es gab keine Einigung, nur eine Vertagung. Der Vertrag ist noch in deinem Besitz. Und du konntest die Wohnung von Munas Tante und ihrem Mann nicht kaufen, weil der Mann nicht erschienen ist – wie ihr es vereinbart hattet. Und er ist nicht gekommen, weil du ihn darum gebeten hast. Ihr habt euch dann entschieden, kurzfristig nach Beirut zurückzukehren, weil… nun, etwas Wichtiges soll heute Nachmittag nach zwei Uhr geschehen. Macht euch keine Sorgen – ich wünsche euch eine angenehme Reise. Ich werde die Angelegenheit mit dem Vertrag bald abschließen und dir das gesamte Geld zurückerstatten. Vielleicht gelingt es mir sogar, einen besseren Preis für dich zu erzielen.“
Mit ruhiger Hand unterzeichnete Herr Ahmad das Übertragungsdokument und überreichte es Numan. „Die Sitzung ist heute um halb drei“, sagte er.
Numan trat zu Muna, die ihn mit einem Ausdruck zwischen Erstaunen und Unsicherheit ansah. „Willst du wirklich an der Wohnung festhalten, oder reist du wirklich ab und gibst deine Pläne auf?“
Muna stotterte. Ihre Stimme versagte beinahe. Wie sollte sie ihm sagen, dass fast alles nur gespielt war – bis auf jenen Teil, der plötzlich zur Wahrheit geworden war, eine Wahrheit, die ihr Herz zum Überschlagen brachte? Doch sie fand keine Worte. Stattdessen wandte sie sich an ihren Vater: „Bitte, sag die Reise ab. Ich bleibe. Ich will diese Wohnung – und all die Pläne, die jetzt zu meinem Traum geworden sind.“
Zur vereinbarten Zeit erschienen Herr Ahmad und Numan im Immobilienbüro. Ahmad setzte sich ruhig auf das Sofa, beobachtete aufmerksam, während Numan verhandelte – und es gelang ihm, innerhalb von zwei Tagen die Eigentumsübertragung abzuschließen. Die volle Summe wurde gesichert, ebenso wie zwei Kaufinteressenten für die übrigen Wohnungen.
Am Ende verließen alle die Sitzung zufrieden. Auf dem Rückweg zum Laden blieb Herr Ahmad nicht stumm – er stellte eine Frage nach der anderen, doch Numan antwortete nicht. Erst als Ahmad einen alten, vertrauten Stoffhändler anrief, mit dem er früher oft zusammengearbeitet hatte, schien sich ein neuer Gedanke zu formen. Er lud ihn ein, noch vor Ladenschluss am Abend vorbeizukommen.
Der Händler kam wie verabredet, und Numan bat ihn höflich, Herrn Ahmad nach Hause zu begleiten – er selbst würde den Laden abschließen und ihnen bald folgen.
In Ahmads Haus, bei einem Glas Tee, fragte Numan schließlich: „Hast du die Wohnung gekauft, die du mir neulich beschrieben hast?“
Schüttelte den Kopf.
Da lächelte Numan. „Eine, die ihr gleicht – vielleicht sogar besser – wartet auf dich. Aber wenn du den Vertrag nicht bald unterzeichnest, könnte sie schon morgen vergeben sein.“
Als der Händler sein ernsthaftes Interesse an der Wohnung bekundete, griff Numan ohne Zögern zum Telefon. Mit ruhiger Entschlossenheit rief er den Büroleiter an, koordinierte einen frühen Besichtigungstermin für den kommenden Morgen – und bat ihn eindringlich, Herrn Ahmad zu informieren, damit dieser den Käufer begleiten möge.
Am nächsten Tag erschien Herr Ahmad, wie gewohnt, überpünktlich. Er begrüßte den Händler mit seiner gewohnten Gelassenheit und sagte mit beruhigender Stimme:
„Alles ist vorbereitet. Wir bringen es heute unter Dach und Fach.“
Der Händler nickte knapp, ein zurückhaltendes Lächeln in seinen Augen, das mehr sagte als Worte.
Man einigte sich auf einen Termin zur Vertragsunterzeichnung um halb drei am Nachmittag. Die Anwesenden versammelten sich in gespannter, aber hoffnungsvoller Atmosphäre. Mit ruhiger Präzision wurden die Papiere unterzeichnet, Eigentumsrechte übertragen, und Zahlungsverpflichtungen in wohlüberlegten Etappen geregelt – wie zuvor genau abgesprochen.
Am Ende dieses Tages stand Numan ein paar Schritte entfernt vom Bürogebäude, beobachtete, wie die Beteiligten nacheinander hinaustraten, mit Dankesworten auf den Lippen und erleichterten Mienen.
Er atmete tief durch, als hole er sich all die Luft zurück, die er in den vergangenen Tagen geopfert hatte – und murmelte leise vor sich hin:
„Ich habe mein Versprechen gehalten.“
Es war der Abschluss eines langen Weges – und der Beginn eines neuen Kapitels in dem stillen Buch des Vertrauens, das Numan Zeile für Zeile schrieb, ohne es je laut auszusprechen.
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An einem der ersten milden Winterabende, als das neue Zuhause bereits Wärme, Möbel und erste Erinnerungen atmete, beugte sich Muna zu ihrem Vater und flüsterte mit leiser Stimme:
„Baba… darf ich dich um einen kleinen Gefallen bitten? Ruf Numan an – und lad ihn heute Abend zum Abendessen ein.“
Herr Ahmad lächelte milde. Er sagte nichts – als hätte er genau auf diesen Wunsch gewartet –, nahm den Hörer ab und wählte.
Keine Stunde später klopfte Numan an die Tür. Sie wurde weit geöffnet – und Herr Ahmad empfing ihn persönlich, reichte ihm die Hand mit spürbarer Herzlichkeit und führte ihn hinein, dorthin, wo der Tisch bereits gedeckt war. Alles trug Munas Handschrift – sorgfältig, liebevoll, fast so, als bereite sie etwas Größeres vor als nur eine Mahlzeit.
Kurz darauf betrat Muna das Zimmer. Sie hatte ihr Haar unter einem locker fallenden Tuch verborgen, trug ein langes, schlichtes Kleid, das ihre ganze Gestalt verhüllte – und ließ allein ihr Gesicht leuchten, als sei es eine sanfte Lichtquelle im Raum. Ihre Schritte waren leise und würdevoll, ihr Lächeln ruhig und ein wenig verwundert – als staune sie selbst über den Moment.
Mit sanfter Stimme sagte sie:
„Friede sei mit euch… willkommen, Numan.“
Er erwiderte den Gruß zurückhaltend, doch ehe er mehr sagen konnte, fuhr sie fort – als müsste etwas gesagt werden, das schon viel zu lange in ihr brannte:
„Ich habe mit meinem Vater offen über dich gesprochen… und weißt du? Ich war eifersüchtig. Ja, eifersüchtig! Weil ich spürte, wie sehr er dich ins Herz geschlossen hat – so sehr, dass ich glaubte, um seinen Platz in seinem Herzen konkurrieren zu müssen. Deshalb habe ich beschlossen, dieses Kleid zu tragen… um dir entgegenzukommen in dem, was seine Seele schätzt. Von heute an sind wir gleich. Wir lieben ihn – du und ich – ohne Eifersucht, ohne Wettstreit. Was meinst du? Passt mir dieses Kleid?“
Numan blickte sie einen Moment lang schweigend an. Ihre Worte, so fein und brüchig, waren wie Regentropfen auf eine nächtliche Fensterscheibe gefallen – und er versuchte, sie einzusammeln, einen nach dem anderen. Dann sprach er leise, fast zögerlich, als wollte er sich vergewissern:
„Meintest du… mich mit dem, was du gesagt hast? Oder sprachst du von jemand anderem?“
Sie lachte leise, ein heller Klang, und sagte:
„Natürlich meinte ich dich! Oder denkst du, ich würde mit meinem Vater in diesem Ton sprechen?“
„Nein… das hätte ich nicht gedacht. Aber weißt du, ich werde dir nie die Liebe zu deinem Vater streitig machen – das steht mir gar nicht zu. Deshalb solltest du auch nicht eifersüchtig sein. Und trotzdem… es macht mich wirklich glücklich, dass wir neu anfangen können. Und wenn du diesen Weg aus Liebe zu Gott und aus Gehorsam wählst, dann wird dein Gewand für dich mehr sein als ein Schleier – es wird eine Krone sein.“
Muna nickte entschlossen, ihre Augen glänzten:
„Ich verspreche es dir. Hier. Vor meinem Vater. Und jetzt… komm! Lass uns essen – und du erzählst mir ein wenig von dir.“
Sie standen gemeinsam auf, traten an den Tisch. An den Wänden glitten die Schatten – wie stille Zeugen – mit ihnen mit, hörten zu, lächelten im Verborgenen.
So setzte sich Numan mit Herrn Ahmad und Muna an den Esstisch – der Anfang eines neuen Kapitels im Leben jedes Einzelnen von ihnen.
Herr Ahmad führte seine Arbeit und seine Büroverpflichtungen weiterhin mit gewohnter Disziplin fort – tägliche Telefonate, Reisen zwei- bis dreimal pro Woche in den Libanon. Doch etwas hatte sich verändert: ein unsichtbarer Faden verband ihre Wege – zart, aber spürbar.

Kapitel Dreizehn Ein neuer Anfang
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Muna studierte inzwischen an der Universität Damaskus – Fakultät für Geisteswissenschaften. Sie war offiziell im Fachbereich Arabische Sprache aufgenommen worden, jenem Studiengang, zu dem ihre Seele stets im Verborgenen geneigt hatte, ohne dass sie es früh auszusprechen gewagt hätte. Erst spät, als sie in der Sprache eine stille Heimat und eine unantastbare innere Mutter gefunden hatte, legte sie ihr Herz offen.
Mit Beginn des ersten Semesters wurde ihr mit jedem Besuch Numans in ihrer Wohnung deutlicher, dass dieser junge Mann – trotz jener zurückhaltenden, fast ländlich anmutenden Art – ein Herz in sich trug, das leidenschaftlich für Wissen brannte, für Bücher, für das Schreiben, auf eine Weise, wie sie es nur selten erlebt hatte.
Oft saßen sie gemeinsam in ihrer kleinen Lieblingsecke, und Muna bestärkte ihn immer wieder mit leiser Entschlossenheit: Er solle sein Talent nicht dem Zufall überlassen, sondern es in geordnete Bahnen lenken – auf akademische, ernsthafte Weise, einer Begabung würdig, die in der Stille wuchs und auf jemanden wartete, der ihren Ruf vernahm.
Eines Abends, kurz nachdem Herr Ahmad ein Telefongespräch mit Beirut beendet hatte, warf er Numan einen nachdenklichen Blick zu und sagte, mit einem Ton, der Ernst und Hoffnung zugleich trug:
„Warum meldest du dich nicht zu einem Kurs für technisches Zeichnen an? Ein Intensivkurs könnte dir ein Stück deines alten Traums zurückgeben – und mir zugleich bei der Arbeit helfen.“
Muna und Numan tauschten einen kurzen, wortlosen Blick, in dem stilles Einverständnis lag. Dann sagte sie, während sie gedankenverloren ihre Unimappe durchblätterte:
„Das wäre wirklich wunderbar. Technik und Literatur widersprechen sich nicht – sie sind wie Zwillinge, weißt du? Jeder ergänzt den anderen.“
Von jenem Tag an verging kaum ein Tag, an dem Numan ihre Wohnung nicht aufsuchte – sei es, wenn Herr Ahmad anwesend war oder auf Geschäftsreise in den Libanon weilte, wo er in seinem persönlichen Büro arbeitete – einem Raum, den er selbst sein Labor der Träume nannte, sein stilles Rückzugszimmer, wenn die Welt zu laut wurde.
Tante Salma, Munas Tante, die mit ihnen wohnte, schuf für diese Begegnungen den passenden Rahmen – durch ihre stille Gegenwart, ihr gelassenes Lächeln, das ihr Gesicht nie verließ. Ihre ruhige Art verlieh den Gesprächen eine warme Selbstverständlichkeit, machte Numans Besuche zu einem Teil des neuen Alltags, den niemand mehr hinterfragte.
So verflochten sich ihre Tage langsam, behutsam – zwischen Universitätsbüchern, Projektideen und dem leisen Kratzen der Stifte, das den Traum zwischen Lineal und Seiten schrieb.

Kapitel Vierzehn Rückkehr in die Wärme der Familie
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Nach einer langen Nacht voller Gespräche mit Muna und ihrem Vater – einem Dialog, der sich bis in die Stunden vor der Morgendämmerung zog – zog sich jeder schließlich in sein Zimmer zurück. Doch Numan fand keinen Schlaf. Die Worte, die Fragen, die stillen Blicke – all das kreiste weiter in seinem Inneren.
Er verließ das Haus, trat hinaus in die noch dunklen Straßen von Damaskus. Ohne Ziel ging er, ließ sich von seinen Gedanken treiben, bis er unvermittelt vor einem der ersten Busse des Morgens stand – einer, der zurück in sein Heimatdorf fuhr. Er stieg ein. Nicht als Flucht vor der Stadt, sondern als Suche: nach einem Boden, der seine Wurzeln neu formen könnte – nicht seine Mauern. Nach Antworten, die längst in ihm widerhallten, aber nie zu Ende gedacht worden waren.
Die Nacht lag ihm noch schwer auf den Schultern. Die Gespräche hatten etwas in ihm aufgewühlt – Fragen nach Glauben, nicht als bloßes Erbe, sondern als freier, innerer Dialog mit dem Unbekannten; Gedanken über das politische System, nicht als gegebene Realität, sondern als Fessel, die sich in Bedeutung, Freiheit und Schicksal einnistet – und Angst hinterlässt.
Als er das elterliche Haus erreichte, schlief es noch. Das hölzerne Doppeltor war, wie immer, leicht zu öffnen, ohne Schlüssel. Vor der Schwelle lag sie – die schwarze Hündin.
Er hatte sie als Welpe großgezogen. Sie war ihm einst aufs Feld gefolgt, hatte sich heimlich hinter ihm in die Schule geschlichen. In diesem Dorf wurde ihr Name längst mit dem seinen verknüpft. Sie war mit ihm groß geworden, hatte seine Zeit durch die Gassen des Dorfes und hinter den Mauern des Hauses mitgetragen.
Einmal war sie krank gewesen, beinahe dem Tod geweiht. Numan hatte ihr persönlich das Futter zubereitet – Brot, getränkt in abgekochtem Leinsamen. Tage später lief sie wieder, als wollte sie den Tod noch eine Weile hinausschieben – als warte sie auf seine Rückkehr.
Und nun, nach all den Monaten, stand sie auf einmal auf – obwohl sie ihn noch gar nicht gesehen hatte – und rannte los, als würde sie seinen Geruch erkennen, seinen Schatten spüren. Kein Bellen, kein Hecheln. Nur ein leiser Schritt, ein tiefer Blick. Sie legte ihren Kopf auf sein Knie – als wolle sie sagen: Du bist endlich da.
Numan trat in den Hof ein, als würde er sich bei den alten Bäumen für seine Verspätung zur Morgenstunde entschuldigen. Die Blätter des Olivenbaums waren feucht vom Tau, sie hingen herab wie die Finger seiner Großmutter – als würden sie zum Himmel zeigen.
Das Haus stand, wie er es verlassen hatte – und doch erschien es ihm kleiner. Als hätte die Zeit selbst ein Jahr oder mehr aus seinen Mauern getrunken, und ihn nun unvollständig, sehnsüchtig empfangen.
Er trat an das Waschbecken im Hof, wusch sich Hände und Gesicht. Er ahnte nicht, dass seine Mutter ihn bereits durch das Fenster des Backofenzimmers beobachtete – ein wollener Schal um ihre Schultern, während sie leise etwas auf dem Herd zubereitete.
Als sie ihn dort sah, wie er sich wusch, sagte sie zunächst nichts. Sie schaute nur – lang, still, wie eine Umarmung mit den Augen.
Und als er das Wasser abschüttelte, hörte er ihre Stimme, fast flüsternd, als spräche sie mehr mit sich selbst als mit ihm:
„Guten Morgen, mein Sohn.“
Er drehte sich überrascht um – damit hatte er nicht gerechnet, so früh am Morgen.
„Guten Morgen, Mama“, sagte Numan leise.
„Ich dachte, du würdest diesen Winter nicht mehr zurückkommen.“
Er trat zu ihr, küsste ehrfürchtig ihre Hand und ließ sich von ihr wortlos an die Brust ziehen. Sie hielt ihn mit einer Zärtlichkeit, die nur Mütter kennen. Dann bat er sanft:
„Lass mich noch schnell das Morgengebet verrichten, bevor die Sonne aufgeht.“
Nachdem er in jener kleinen Ecke seines Zimmers gebetet hatte – die stille, vertraute Nische, die ihm längst zum Tempel geworden war –, kehrte er mit ruhigen Schritten zurück und setzte sich neben sie. Er wirkte wie ein Kind, das aus einer fernen Verwunderung heimgekehrt war. Lange betrachtete er ihr Gesicht, das er besser kannte als sein eigenes, dann sagte er mit zitternder Stimme:
„Ich habe dich vermisst, Mama… Ja, wie sehr ich dich vermisst habe!
Deine Stille… dein frühes Erwachen… selbst dein Schweigen… Ich habe alles vermisst, was dieses Haus ausmacht.“
Sie ließ ihren Blick über seine Züge gleiten. Er war ruhiger geworden, erwachsener vielleicht – doch jenes Leuchten in seinen Augen, das ihn immer begleitet hatte, war schwächer geworden. Sie goss ihm Tee ein, setzte sich ihm gegenüber und beobachtete ihn in stillem Schweigen.
Einige Schlucke vergingen, bevor sie mit einer Frage das Schweigen brach – eine Frage, die wohl schon ein Jahr lang in der Luft hing:
„Hattest du nicht gesagt, du wolltest Ingenieur werden? Häuser für die Armen bauen, Schönheit an ihre Orte bringen… Was ist passiert?“
Er zögerte. Lange blickte er auf den aufsteigenden Dampf seiner Tasse, dann sprach er mit gedämpfter Stimme:
„Ich habe meinen Traum nicht aufgegeben… ich habe ihn nur… woanders gesucht. Ein Ort namens: Fakultät für Geisteswissenschaften.“
Er lächelte dabei – als wolle er sich gleichzeitig erklären und rechtfertigen:
„Ich wollte erst die Geschichten verstehen, Mama… bevor ich anfange, ihre Wände zu verschönern.“
Sie schwieg. Es war dieses Nachdenken, das nicht in Worten, sondern in Falten über das Gesicht geht. Dann flüsterte sie, ohne die Sorge in ihrer Stimme zu verbergen:
„Geschichten machen nicht satt, mein Sohn. Und sie bauen auch keine Häuser.“
Er neigte den Kopf kurz, hob ihn dann langsam wieder:
„Auch Häuser nicht, Mama… wenn sie ohne Seele gebaut werden.“
Sie sah ihn lange an. Schließlich lächelte sie und schüttelte leicht den Kopf – zwischen Zweifel und leiser Zustimmung:
„Deine Worte… sie klingen wie du selbst – man versteht sie erst beim zweiten Hören.“
Er lachte leise. Es klang fast wie ein Geständnis:
„Und ich selbst verstehe mich manchmal nicht mehr… Niemand versteht mich, außer vielleicht hier.“
Sie lächelte sanft, streckte die Hand aus und legte sie auf seine Schulter. In dieser Geste lag nichts als reine, mütterliche Zärtlichkeit – wie ein stilles Gebet:
„Wichtig ist nur, dass du weißt, wohin du gehst… selbst wenn du allein gehst.“
In jenem Moment schien das Haus sich plötzlich zu weiten, als hätte selbst die Zeit – trotz ihres gewohnten Ungehorsams – Platz genommen und ehrfürchtig das Haupt gesenkt.
Draußen war das Zwitschern der Vögel kein bloßer Klang, sondern ein ganzes Orchester aus Flügelrauschen und Aufstieg – als ob die Zweige selbst in einem lebendig grünen Ton sangen.
Numan kehrte in sein Zimmer zurück, ließ sich auf das hölzerne Bett sinken und starrte lange an die Lehmdecke. Trotz ihrer Schlichtheit bewahrte sie eine Wärme, die kein moderner Beton zu erzeugen vermochte.
Es war einer jener seltenen Morgen, die nichts fordern und nichts erwarten – ein Morgen, der sich einfach der Erinnerung öffnete.
Nach einer kurzen Weile stieg er erneut in den Hof hinunter, auf der Suche nach seiner Mutter.
Er fand sie beim Holzsammeln neben dem alten Lehmofen, bereit zum Kneten, zum Brotbacken.
Er nahm ein Stück Holz in die Hand, betrachtete es wie ein kleines Erinnerungsstück, während seine halb geschlossenen Augen auf einen stummen Ruf in weiter Ferne lauschten.
„Backst du immer noch mit diesem alten Ofen?“, fragte er und beobachtete, wie sie den Ofen vorbereitete.
Sie antwortete, ohne sich umzudrehen – als hätte sie seine Frage schon gehört, bevor er sprach:
„Du wirst in keinem Bäckerladen ein Brot finden, das dem deiner Mutter gleicht… Frag doch deine eigenen Tage, Numan – wie oft warst du vor mir wach, hast das Holz gesammelt, das Feuer entfacht, bis es zu Glut wurde, und dann neben mir gestanden mit deinen kleinen Händen, bereit, die Teigfladen zu bringen?“
Er lachte leise, trat leichtfüßig näher – wie ein junger Mann, der zu seinem alten Spiel zurückkehrt:
„Und ich tue es noch immer, Mama! Wenn du willst, übernehme ich heute – ruh dich aus.“
Sie lachte, während sie das Tuch vom gegangenen Teig hob. In ihrer Stimme lag ein Scherz – und darin tausend Erinnerungen verborgen:
„Und wer garantiert mir, dass du nicht wieder das Mehl auf deine Kleider streust, wie damals, als du darauf bestanden hast, mit deinen schwachen Händen den Teig zu kneten?“
„Damals habe ich gelernt“, sagte er und griff mit reifer Kinderlust nach dem Korb mit dem Holz.
„Jetzt bin ich ein Meister im Feuermachen – und ein Herrscher über die Glut.“
Ein warmes, schelmisches Lächeln ging zwischen ihnen hin und her. Dann setzte er sich neben den Ofen, betrachtete das aufsteigende Feuer, und in seinen Augen glomm eine Sehnsucht, die nie ganz erloschen war – als wolle er mit sich selbst etwas zurückholen von jenen Jahren, die leise vorbeigingen, ohne zu fragen.
In seiner Stimme lag der Ton dessen, der bleiben möchte – auch wenn er es nicht ausspricht.
Und in seinen Bewegungen wohnte ein stilles Verlangen nach Zugehörigkeit…
Als hätte die Stadt ihn nie ganz umarmt – oder ihm nichts hinterlassen als einen Lärm, den er bis heute nicht verstand.
Das Feuer im Lehmofen war nun vollständig entfacht. Der Duft des Brotes, eine Mischung aus der Wärme des Teigs und der Frische des frühen Morgens, durchzog den Hof. Es war ein Aroma, das nur durch Erinnerungen an Erde und Sehnsucht beschrieben werden konnte.
Als Numan ein warmes Brotstück entgegennahm und langsam davon abbiss, fragte seine Mutter mit einem Augenzwinkern, halb scherzhaft, halb hoffnungsvoll:
„Bleibst du diese Woche bei uns? Oder lässt Damaskus niemanden lange fern?“
Er zögerte einen Moment, dann antwortete:
„Ich bleibe… so lange ich kann. Vielleicht kehre ich eines Tages ganz zurück.“
Sie sah ihn überrascht an, dann schweifte ihr Blick in die Ferne, zu einem Ort, den nur ihr Herz kannte. Mit einer Stimme, die wie aus einem alten Brunnen zu kommen schien, sagte sie:
„Komm nur zurück, wenn du hier einen Traum hast. Sehnsucht allein baut kein Leben, Numan.“
Ein stilles Schweigen legte sich über sie, nicht das flüchtige, sondern jenes, das leise in den Herzen spricht.
Alles im Hof schien im Einklang: der Duft der feuchten Erde vermischte sich mit dem aufsteigenden Brotgeruch, das leise Murmeln seiner Mutter, die ein altes Gebet sprach… und Dinge, die nur in diesem Haus, diesem Hof und dieser Geborgenheit erklärbar waren.
Als sein Herz mit der Wärme des Brotes und einer seltenen Ruhe erfüllt war, die er in der Stadt nie gekannt hatte, kehrte Numan in sein Zimmer zurück. Er zog langsam seinen Wollmantel aus, als würde er die Last vergangener Tage und Sehnsucht von seinen Schultern nehmen. Dann setzte er sich auf sein hölzernes Bett, streckte die Hand aus und berührte ein mit alten Blumen besticktes Tuch, das seine Mutter ihm in seinem ersten Studienjahr genäht hatte.
Er legte sich hin und schloss die Augen. Doch der Schlaf kam nicht. Etwas in ihm blieb wach, pulsierte unter seiner Haut wie ein alter Traum, der aus seinem Schweigen erwachte und sanft, aber bestimmt an die Türen seiner Erinnerung klopfte.
Etwas in seinem Inneren hielt ihn wach…
Als würde ein schlafender Traum unter seiner Haut zu leben beginnen und ohne Erlaubnis an die Türen seiner Erinnerung klopfen.
„Bin ich geflohen, als ich Literatur statt Kunst wählte? Oder suchte ich meine Stimme in Texten statt in Farben?“
Er murmelte die Frage, als würde er laut denken, während seine Augen an die hölzerne Zimmerdecke starrten, in der feine Risse wie Adern in einem alten Haus verliefen.
Er glaubte, dass die Entfernung vom Lärm der Stadt ihm Klarheit bringen würde… Doch die Entfernung stellte ihm erneut Fragen, statt Antworten zu geben.
Er erinnerte sich an den ersten Zeichensaal… wie der Geruch der Farben ihn berauschte und wie seine Fähigkeit zur körperlichen Darstellung ihn im Stich ließ, als er seine Idee von Licht und Schatten erklären sollte.
Er erinnerte sich an sein Stammeln vor der Aufnahmekommission, die seine mit Bleistift gezeichnete Skizze mochte, aber als er gebeten wurde, das Gezeichnete in einer realen Szene umzusetzen, die eine erfahrene Studentin, vorgeschlagen von der Prüfungskommission, darstellen sollte, um das Bild realistisch nachzustellen…
Kaum hatte sich seine Kommilitonin bereitgemacht, sich in die Pose zu begeben, die Numan ihr vorgeben sollte, damit die Szene vollendet werde, begann sie, sich oben auf dem Podium behutsam einiger Kleidungsstücke zu entledigen.
In diesem Moment erstarrte er.
Seine Hände begannen zu zittern.
Er spürte, wie sein Körper ihm nicht mehr gehorchen wollte – wie sollte er sich ihr nähern, geschweige denn sie berühren?
Sein Mund trocknete aus, die Worte flüchteten wie erschrockene Vögel.
Die Scham, die in ihm aufstieg, wurde unerträglich.
Mit stockender Stimme murmelte er etwas von einem plötzlichen Magenschmerz – eine hilflose Ausrede – und verließ eilig den Raum, bevor seine Unsicherheit zur Katastrophe wurde.
Vielleicht… war es keine Flucht vor dem Traum, sondern vor dem Moment.
So erklärte er es sich später selbst.
Vielleicht war es die Angst, dass sein inneres Unvermögen als äußeres Scheitern gelesen würde.
Und warum, fragte er sich noch lange danach, hatte er schließlich Munas Vorschlag zugestimmt – als sie, nach einem langen, stillen Gespräch sagte:
„Vielleicht brauchst du gerade keine Farben, Numan… vielleicht brauchst du Texte. Worte, mit denen du alles sagen kannst, ohne jemanden ansehen zu müssen.“
Aber… Reichen Worte aus, um das Innere zu heilen?
Genügt es, das Leben zu lesen – ohne es zu malen, ohne es ganz zu leben?
Später, in seinem Zimmer, setzte er sich schließlich hin und holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche.
Schlicht, abgenutzt – eines jener Hefte, in das man Gedanken notiert, wenn niemand hinsieht.
Er blätterte langsam durch die Seiten.
Seine frühen Gedanken aus dem ersten Studiensemester waren darin festgehalten – tastende Zeilen, geschrieben mit einer Hand, die noch nicht wusste, wohin sie wollte.
Dann blieb sein Blick an einem Satz hängen, abends notiert, in unsicherem Schriftbild:
„Die Stadt verführt mich, aber sie erkennt mich nicht an. Das Dorf versteht mich, aber es kann mich nicht ganz halten.“
Er schlug das Heft sanft zu.
Mit leiser Stimme – kaum hörbar, als spräche er nur mit sich selbst – sagte er:
„Ich muss dieses Kapitel meines Lebens selbst schreiben… nicht zulassen, dass es über mich geschrieben wird.“
Draußen war seine Mutter gerade mit dem Brotbacken fertig geworden.
Sie hatte sich die Hände gewaschen, saß nun unter dem Granatapfelbaum, wischte sich mit dem Ende ihres Tuchs den Schweiß von der Stirn – wartete darauf, dass ihr Sohn wieder herunterkam.
Aber er blieb dort oben…
Still wie eine alte Spur in einem verlassenen Buch.
Er blätterte durch sein Leben wie durch Seiten einer hastig geschriebenen Geschichte.
Unten im Hof war sein Vater gerade erwacht.
Seine kräftige Stimme hallte liebevoll durch den Morgen:
„Numan! Mein Sohn… das Frühstück ist fertig.“
Der Vater saß mit der Familie beim Frühstückstisch, drehte gedankenverloren ein warmes Fladenbrot zwischen den Händen und wartete. Als würde ein ungesagtes Versprechen zwischen ihm und seinem Sohn bestehen – aufgeschoben seit einem Jahr. Doch war jetzt der Moment gekommen, ihn daran zu erinnern?
Vielleicht. Vielleicht war nun der wahre Anfang.
Numan kam die Treppe hinunter, Schritt für Schritt, schwer wie einer, der einen Traum auf den Schultern trägt – einen Traum, der sich nie ganz erfüllt hatte.
Er grüßte mit leiser Stimme, küsste die Hand seines Vaters – wie immer – und setzte sich an den Tisch.
Doch er sagte kein Wort.
Er hatte einen Mund, der aß – aber keine Zunge, die erzählen konnte.
Die Familie plauderte munter, stellte Fragen, scherzte, erzählte:
Wann bist du eigentlich gekommen? Warum hast du nichts gesagt?
Aber Numan hörte nicht zu, antwortete nicht.
Die Gespräche glitten weiter – über das Essen, über eine Verwandte, die geboren hatte, über Schwierigkeiten in der Schule.
Er war körperlich anwesend, doch seine Seele fehlte. Er stahl sich Bissen, aber verlor sich im Sinn.
Seine Schwester warf ihm einen kurzen Blick zu und flüsterte:
— „Numan ist heute irgendwie… anders, nicht wahr?“
Aber Numan schwieg. Als er aufgegessen hatte, wischte er sich leise die Hände ab und murmelte:
— „Entschuldigt mich bitte… ich muss zurück in mein Zimmer.“
Er stand rasch auf, als hätte er etwas zu jagen – etwas, das ihm entglitten war.
Oben, im Zimmer, saß er auf der Bettkante. Sein Blick klebte am weißen Putz der Wand. Er murmelte vor sich hin, als führe er ein stummes Tribunal mit seiner Erinnerung:
— „Bin ich wirklich geflohen, als ich mich für Literatur statt für die Kunsthochschule entschieden habe?
War ich auf der Suche nach meiner Stimme – zwischen den Zeilen, nicht in Farben und Formen?
War das Flucht – oder das Bedürfnis nach einem Raum, in dem ich nicht zittern, mich nicht schämen musste vor den Blicken der anderen?“
Als seine Gedanken verstummten, wurde es still im Zimmer – doch in seinem Inneren tobte ein Lärm, der kaum zu ertragen war.
Da war sie wieder – Munas Stimme. Als käme sie aus einem alten Band, das in den Tiefen seiner Seele konserviert war:
— „Du bist nicht vor der Kunst geflohen, Numan…
du bist vor deinem Körper geflohen.“
Er schüttelte den Kopf. Vor seinem inneren Auge stand sie jetzt in der Ecke des Zimmers, mit einem Blick, der keine Ausflüchte zuließ.
— „Ich war nicht bereit…“, flüsterte er in sich hinein,
— „Ich wusste nicht, wie ich meinen Körper in den Sinn hineinlege.
Ich malte, weil ich das gebrochene Licht liebte – nicht, um vor anderen zu stehen und meine Enttäuschung zu präsentieren.“
Wieder hörte er ihre Stimme – diese Tonlage, die keine Hintertür offenließ:
— „Aber du hast in Schwarz und Weiß Dinge gezeichnet, die kein Dichter in Worte fassen kann…
Warum bist du nicht geblieben?“
— „Weil ein Bild den Maler nicht schützt…“, antwortete er ihr still,
— „und ich brauchte eine Mauer, die meine Angst bedeckt.“
Er lehnte sich an die Wand und schloss langsam die Augen.
„Alles kann Kunst sein …“, murmelte er, „sogar das Schweigen – wenn es ehrlich geschrieben ist.“
Als er die Augen wieder öffnete, glitt sein Blick zur Decke des Lehmbodenzimmers. Kleine Risse zeichneten sich dort ab, wie Adern einer alten Erinnerung, durchzogen vom Schweigen der Abwesenheit.
Das Schweigen zog sich in die Länge, und schließlich atmete er tief durch – als wolle er einer Entscheidung einen Klang verleihen, der ihm noch nicht ganz gehörte.
Vielleicht war das der erste Fluchtversuch – nicht vor dem Traum selbst, sondern vor der Beklommenheit. Vor der Angst, das eigene Unvermögen zu entblößen – in einer Welt, die verlangt, dass der Körper spricht, wie der Pinsel es tut.
Damals, an jenem Tag, hörte er sich Munas Vorschlag an:
„Warum nicht die Fakultät für Literatur? Dort können Worte das tun, wozu dein Körper nicht imstande ist.“
Und er erinnerte sich. An den Moment, als er den Aufnahmesaal der Kunsthochschule betrat. Die Staffelei in der Hand, das Herz flackernd, die ölige Farbnote berauschte ihn – wie Regen die Sinne derer berauscht, die aus der Kindheit zurückkehren.
Wie er vor dem Prüfungskomitee stand, stotterte, zu der Kommilitonin hinübersah, mit der er die Szene darstellen sollte – in ihre Augen, ihre offenen Gesichtszüge, die nackte Schulter … vielleicht … und er bekam Angst.
Muna sagte später, während sie durch die Gassen der Stadt schlenderten:
„Du hättest auf das Bild schauen sollen. Nicht auf den Körper des Mädchens. Warum hast du Idee und Erscheinung verwechselt?“
Er antwortete verlegen:
„Weil ich noch nicht gelernt habe, Schönheit zu entschlüsseln, ohne vor ihr zu erröten.“
Sie lachte bitter:
„Und meinst du, Worte seien gnädiger? Sind Gedichte nicht auch Körper?“
Damals senkte er den Blick. So wie jetzt.
„Vielleicht habe ich mich für die Literatur entschieden, weil sie mich nicht entblößt wie die Farben es tun. Hier verstecke ich mich hinter Buchstaben und ordne mein Scheitern in Zeilen – nicht in zitternden Händen.“
Der Wind war kühl in jener Nacht, als Muna sagte:
„Aber wahre Literatur lässt dich nicht zwischen den Zeilen verschwinden. Sie verlangt, dass du die Maske ablegst. Dass du dich selbst schreibst – nicht nur ein Bild von dir.“
„Und ich? Bin ich dazu bereit?“, fragte er sich.
Die Frage blieb im Raum hängen – wie ein gebrochener Lichtstrahl in den Ecken.
„Reichen Worte aus, um das Innere zu heilen?“, flüsterte Numan nun, diesmal hörbar.
Die Antwort ließ auf sich warten. Oder war sie längst da – in Munas Augen, als sie sagte:
„Das Innere heilt nicht durch Worte allein, sondern durch Wahrheit.
Schreib, Numan … aber lüg nicht.“
Numan lag ausgestreckt auf dem hölzernen Bett. Die Luft strich ihm sacht über die Stirn – kaum spürbar, fast wie eine Erinnerung. Doch seine Brust schnürte sich enger mit jedem Atemzug, als würde das Zimmer kleiner werden, die Decke sich senken, je tiefer er in seine Gedanken versank.
„Ich war nicht krank, Muna… Ich habe gelogen, nur um zu fliehen. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Und mein Blick… war gnadenlos.“
Er hörte ihre Stimme in seinem Kopf – lebendig, klar, wie nur sie es konnte, wenn sie unter die Oberfläche der Worte griff:
„Weißt du, was dein eigentliches Problem ist? Es ist nicht die Angst. Es ist, dass du nicht bereit warst, die Schönheit in einem lebendigen Körper zu sehen, ohne dass sie dich aus dem Gleichgewicht bringt.“
Er schwieg lange, dann antwortete er ihr – leise, nur für sich –, als stünde sie da drüben, am anderen Ende des Zimmers. Manchmal glaubte er, sie stehe am Türrahmen, verschließe die Fenster mit einem einzigen Blick:
„Ich wusste nicht, wie ich schauen sollte, ohne aus dem Takt zu geraten. Sie trug einen engen Baumwollpullover, eine Hose, die zu viel zeigte – mehr, als ich ertragen konnte. Ich konnte den Körper nicht als Form sehen, nicht wie ich ihn für mein Bild sehen sollte. Ich sah die Frau. Und verlor die Fähigkeit, diesen Körper zu formen oder ihn dem Bild anzupassen, das ich gezeichnet hatte.“
„Aber sie war doch nur eine Kommilitonin, Numan. Sie hat sich nicht entblößt. Du hast sie in deiner Vorstellung entkleidet.“
„Ich weiß… Aber ich glaube nicht, dass du das verstehen kannst. Denn die Fantasie lässt sich manchmal nicht zügeln. Und ich habe noch nicht gelernt, meine Reaktion zu ordnen. Es war, als hätte ich plötzlich die Wahrheit ohne Hülle gesehen – und das von jemandem, den ich selbst gezeichnet habe, dessen Wesen ich kannte.“
„Wenn man dir also, wie an Kunsthochschulen üblich, aufgetragen hätte, eine nackte Frau zu zeichnen – wärst du einfach zum nächsten Fenster geflüchtet?“
„Vielleicht… oder… ich weiß es nicht. In dem Moment fühlte ich mich sehr klein vor der Idee, den Körper als Sprache zu begreifen. Als wäre das Bild größer als ich. Und die Kommilitonin – mehr als nur Form und Linien.“
Dann schwieg er wieder. Seine Gedanken wurden schwer. Schließlich murmelte er:
„Ich hatte Angst, es zu tun und dabei meine Überzeugungen zu verletzen. Aber wenn ich es nicht getan hätte… Wer weiß, was passiert wäre? Was sie über mich gedacht hätten? Vielleicht hätte ich einfach meine Unwissenheit entblößt.“
Da kam ihre Stimme erneut – diesmal mit einem Anflug von schelmischem Lächeln:
„Also hast du dich für die Literatur entschieden, weil du dort dem Körper eine Metapher anziehen kannst?“
„Nicht ganz… aber teilweise, ja. Vielleicht auch, weil das Wort mehr verbirgt als zeigt. Oder es zeigt nur, was ich wähle – nicht, was mir aufgedrängt wird.“
„Welcher Teil war das ‚ja‘ in deiner Antwort?“
„Deine Ermutigung. Deine Unterstützung auf diesem Weg.“
„Und das ‚nein‘?“
„Meine Unsicherheit mit der Sprache. Ich hatte keine Ahnung von Grammatikregeln.“
„Aber du hast doch durch deine Noten die Aufnahme in die Arabistik geschafft. Wie passt das zusammen?“
Ein leises Klopfen an der Tür – dann trat Numans Vater ein. Seine Stimme war überrascht, beinahe vorwurfsvoll, doch durchzogen von einer warmen Ungeduld:
„Warum bist du nicht bei uns geblieben? Deine Mutter, deine Geschwister… und ich – wir vermissen dich! Ich gehe jetzt zur Arbeit. Wir reden heute Abend, ja? Und falls du etwas brauchst: Komm einfach rüber in den Laden.“
Er wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne und sagte:
„Dein Großvater wartet draußen im Garten auf dich. Er möchte dich sehen, mit dir sprechen. Unser Nachbar Abu Raschid ist auch bei ihm. Lass sie nicht zu lange warten – sie haben dich auch vermisst. As-salamu alaikum.“
Leise schloss er die Tür hinter sich.

Die Wintersonne war bereits südlich gewandert, ihre Strahlen sanken schräg über die weite Gartenfläche des alten Hauses. Sie fielen golden und sanft auf die knorrigen Äste des Walnuss- und Aprikosenbaums – wie ein matter Seidenschal, den der Wind verspielt bewegte. Die letzten Blätter zitterten im Luftzug, wie Erinnerungen, die sich weigerten zu gehen. Nur der alte Olivenbaum stand unbewegt da – ehrwürdig und unbeirrbar, als bewahre er sein grünes Kleid wie ein Greis seine Würde.
In einer schlichten Ecke des Gartens saß Numan auf einem geflochtenen Kissen. Schweigend beobachtete er, wie das Licht auf die Hände seines Großvaters fiel, der gerade seine Gebetskette reparierte, deren Faden sich gelöst hatte – als wolle er damit etwas Vergangenes wieder ordnen.
Ein paar Schritte weiter saß Abu Raschid, der Nachbar, auf einem schlichten Holzstuhl. Er stützte seine Hand auf einen schmalen Stock und lauschte still, als erwarte er das, was nach dem Schweigen des Windes kommen mochte.
Schließlich durchbrach Großvater Abu Mahmoud die Stille. Seine Augen lagen schwer auf Numans Gesicht – suchend, tastend, als versuchten sie, das Verborgene in ihm zu erkennen. Seine Stimme klang rau, langsam, fast, als müsste sie durch die Schichten der Zeit graben:
„Mein Sohn… wir haben dir Raum gegeben zu lernen und zu wachsen. Und, Gott sei Dank, sehe ich heute einen Mann vor mir. Es ist an der Zeit, dass wir ein Gespräch unter Männern führen. Auch wenn ich, bei Gott, solche Worte nie leicht gesprochen habe – nicht zu meinen Söhnen, nicht zu irgendwem. Unsere Sprache war stets: ‚Tu das. Tu das nicht.‘ Das war unser Erbe. So wurden wir erzogen.
Aber du… du weißt, wie sehr ich dich liebe. Wie sehr ich mich gefreut habe, wenn du mir als Kind vorgelesen hast. Jeder Buchstabe, den du ausgesprochen hast, hat mein Herz erhellt. Und doch – ich habe es dir nie gezeigt. Aus Angst, du könntest übermütig werden. Oder dich in dir selbst verlieren.
Aber was ich in letzter Zeit höre, beunruhigt mich. Man sagt, du sitzt mit jungen Frauen in den Parks. Du liest seltsame Bücher. Und du sagst, die Stadt habe dir das Licht gezeigt. Welches Licht, Numan, führt dich denn so weit von uns weg – selbst von deiner Mutter?
Hat nicht unser Prophet – Friede sei mit ihm – gesagt: ‚Scham ist ein Zweig des Glaubens‘? Wo ist dein Schamgefühl geblieben?“
Numans Kopf senkte sich langsam, als suche er vergeblich nach Worten, die sich irgendwo in der Tiefe seiner Brust verkrochen hatten. Dann sprach er, leise, als müsse jede Silbe durch eine Wand aus innerem Druck brechen:
„Es ist keine Entfremdung, Großvater … Ich … versuche nur, ein guter Sohn zu sein. Ich versuche zu verstehen, wer ich bin – zwischen euch und der Welt, in der ich lebe.“
Abu Raschid, der alte Nachbar, bewegte sich leicht, seine Lippen kräuselten sich zu einem kaum sichtbaren Lächeln – wie einer, der zwischen den Zeilen das verlorene Wort wiederfindet. Mit einem Glanz aus altem Verstehen in den Augen sagte er:
„Ich habe es auch gehört, Hadschi … Aber ich glaube nicht, dass Numan seine Wurzeln kappen will. Er sucht nur nach einer Farbe für seinen eigenen Schatten. Erinnerst du dich nicht, wie der Dichter sagte: ‚Wer den Aufstieg der Berge scheut, lebt ewig in den Gruben‘?“
Er hielt einen Moment inne, dann fuhr er mit ruhiger, eindringlicher Stimme fort:
„Die Zeiten haben sich geändert, Abu Mahmud. Früher dachten wir, Frauen seien Schatten, unantastbar … doch Gott sprach: ‚Und zu seinen Zeichen gehört es, dass er euch aus euch selbst Gattinnen erschuf, damit ihr bei ihnen Ruhe findet.‘ Und Ruhe, mein Freund, kommt nicht aus Furcht – sondern aus gegenseitiger Teilhabe.“
Der Großvater nickte langsam, als lösten sich seine Gedanken aus dem Dämmerlicht alter Erinnerungen:
„Unsere Zeit war einfach, Abu Raschid … Keine Fragen, keine Gesichter, die diskutierten, keine Stimmen, die widersprachen. Wir schwiegen in Gegenwart der Älteren, sprachen nur, wenn man uns aufforderte … So lehrte es auch der Hadith: ‚Zu den Zeichen guten Glaubens gehört es, sich aus Dingen herauszuhalten, die einen nichts angehen.‘“
Und als hätte sich in Numan ein Riegel gelöst, hob er den Kopf – seine Stimme nun erfüllt von Jahren des Zurückhaltens:
„Aber ich glaube immer noch an diese Grenzen, Großvater … Nur – ihr habt euch vor allem gefürchtet. Vor Krankheit, vor der Schule, vor der Welt draußen, vor den Frauen … Als würde ein reiner Blick eines Mädchens schon ein Verrat an den Werten sein, ein Fehltritt auf dem Weg. Ich fühlte etwas – und wusste nicht einmal, wie ich es benennen soll.“
Der Großvater blickte ihn an – nicht wie jemand, der verstehen will, sondern wie einer, der erschüttert ist. Schmerz und Zorn schimmerten in seiner Stimme:
„Und trotz all unserer Angst und Fürsorge wählst du einen Beruf, der uns fremd ist – fremd in seiner Art, fremd in den Menschen, die ihn ausüben: Betoneisenbieger! Was ist das für ein Handwerk, das dir nicht ähnelt – und keinem aus unserer Familie?
Du sagst, du liebst das Lesen – und dann lernst du aus Büchern das Diskutieren, nur um dich in Dinge einzumischen, die dich nichts angehen … und landest schließlich im Gefängnis. Und was für ein Gefängnis? Ein politisches!
Und dann sagst du mir – während du den Kopf hebst – du glaubst noch immer an diese Grenzen? Was ist das für ein Glaube, der dich zu solchen Konsequenzen führt? Wird der Glaube im Feuer des Leids geformt? Oder ist die Strafe für dich ein Weg zur Gewissheit? Entstehen Überzeugungen an den kalten Schwellen der Gefängnisse?
Oder folgst du der Wunde als Wegweiser? Ist für dich das Verlorensein selbst der Weg geworden?“
Numan schwieg einen Moment, als würde er die Worte seines Großvaters auf der Zunge schmecken – wie ein alter, bitterer Nachhall, der in ihm wohnte. Dann sprach er leise, ohne Widerspruch, eher nachdenklich, als ob er suchte, zu begreifen:
„Opa… weder das eine noch das andere. Ich suche nicht nach dem, was euch ähnlich ist, und auch nicht nach meinem alten Ich. Ich suche das, was meinem künftigen Selbst entspricht. Der Beruf des Betonarbeiters mag seltsam wirken – doch für mich war er ein schneller Weg zum Lebensunterhalt. Du weißt es doch: Ich wollte einfach nur genug verdienen, um mein Studium fortsetzen zu können.
Und was das Lesen betrifft – ich las nicht, um zu streiten, sondern um zu verstehen. Ich bin nicht ins Gefängnis gegangen, weil ich es wollte, sondern weil in unserer Zeit Wahrheit zur Straftat geworden ist. Ich glaube nicht an jene Grenzen, die man uns wie Steine in den Weg gelegt hat – nicht um das Land zu zeichnen, sondern um die Menschen zu fesseln, sie in die Flucht zu treiben: in das Schweigen, in die Angst.
Ich glaube an andere Grenzen – jene, die Gott erschaffen hat, um uns zu verbinden, uns zu schützen, uns in Freiheit und Würde zu erziehen. Und selbst wenn dieser Glaube teuer ist – er ist nichts im Vergleich zu dem, was lebendige Seelen wert sind.
Ich sage nicht, dass ich recht habe, Opa… aber ich kann nicht leben mit etwas, woran ich nicht glaube.“
Er holte tief Luft – als breche etwas in ihm zusammen – und fuhr fort:
„An der Universität… da lachen sie, schauen Fußball, streiten sich über Lieder und Wettbewerbe. Und ich? Ich stehe allein… denke über Dinge nach, die sie nicht zum Lachen bringen, die sie nicht interessieren. Manchmal beneide ich sie, manchmal belächle ich sie. Doch tief in meinem Innern weiß ich: Sie ziehen das Gleichgültige dem Denken vor – dem Nachdenken über Gerechtigkeit… über diejenigen, die gefoltert werden, die leiden, über eine Welt, die mir ähnelt… oder der, zu der ich zu werden fürchte.“
Ein feines, fast zärtliches Leuchten trat in Abu Raschids Augen, als er – in einem Ton, der wie ein stilles Eingeständnis klang – sagte:
„Es ist nicht deine Schuld, Numan… wir sind alle aufgewachsen unter einem Schatten der Angst, der durch unsere Adern kroch. Wir fürchten unsere Träume, unsere Sehnsüchte. Wir fürchten es, von Herzen zu lachen – aus Angst, dass unser Lachen von neidischen Blicken oder habgierigen Augen bemerkt wird. Und so sagen wir nach jedem Lachen: ‚Gott bewahre uns vor dem Übel unseres Lächelns.‘
Es ist so weit gekommen, mein Sohn, dass wir fürchten, ehrlich zu uns selbst zu sein.“
Da murmelte Großvater Abu Mahmoud missmutig, schlug mit seinem Stock auf den Boden – als wolle er den Staub der Worte aus seinem Gehör vertreiben – und sagte mit einer Stimme, in der ein Anflug von Zorn lag:
„Aber die Religion lehrt uns, was halal und haram ist – nicht dieses Chaos in den Köpfen und Herzen. Der Prophet – Friede sei mit ihm – hat gesagt: ‚Das Erlaubte ist klar, und das Verbotene ist klar.‘“
Es folgte eine kurze, dichte Stille. Dann wandte sich Numan langsam seinem Großvater zu. In seinen Augen lag ein tiefer Schmerz – einer, der zu zerspringen drohte in seiner Brust – und er sprach mit gedämpfter, aber lebendiger Stimme:
„Weißt du, Opa… ich dachte, das Gebet würde meinem Herzen Frieden bringen. Aber wie kann mein Herz fünfmal am Tag beten – und doch unruhig bleiben? Ich liebe Gott, ich fürchte ihn – aber ich spüre nicht, dass er mich liebt, wenn ich vor ihm zittere wie vor einer übermächtigen Autorität.
Hat er nicht in seinem Buch gesagt:
‚Sprich: O meine Diener, die ihr euch gegen eure Seelen vergangen habt, verzweifelt nicht an der Barmherzigkeit Gottes.‘
Warum also… warum fühle ich diese Barmherzigkeit nicht?“
Abu Raschid atmete tief durch, als wolle er in die Vergangenheit tauchen. Dann sprach er mit einer warmen, ruhigen Stimme:
„Du hast recht, Numan… Es sind genau diese Fragen, die uns zu früh haben reifen lassen. Sie brodelten in uns, ließen uns nicht zur Ruhe kommen. Kein Schweigen konnte sie beruhigen, keine Antwort sie auslöschen. Erinnerst du dich, alter Freund?“
Er beugte sich leicht zu Abu Mahmud hinüber und flüsterte ihm ins Ohr – wie einer, der ein uraltes Geheimnis enthüllt:
„Sogar unsere Sehnsüchte, die wir nie auszusprechen wagten… waren ein Teil unseres Menschseins.“
Dann hob er den Kopf, zwinkerte Numan mit einem schelmischen Lächeln zu und sagte:
„Habt ihr nie von Rabia al-Adawiyya gehört? Als sie sagte: ‚Ich liebe Dich mit zwei Lieben – der Liebe der Sehnsucht, und der Liebe, weil Du der Liebe würdig bist.‘ – Sie hat erkannt: Liebe ist sowohl Körper als auch Geist.“
Für einen Moment stockte Numans Stimme. Dann fand er seine Fassung wieder, sein Ton wurde fester, durchdrang die Stille wie ein Lichtstrahl:
„Nicht ihr, Großvater, und auch nicht wir sind das Problem… Wir alle – über Generationen hinweg – trugen eine Angst in uns, die wir geerbt haben.“
Er machte eine Geste, als würde er eine ferne Erinnerung aus dem Nebel der Zeit herauslösen, seine Stimme wurde klarer:
„Diese Angst… wurde uns eingepflanzt. Manche malten Gott als einen, der nichts im Sinn hat außer Hölle, Strafe und Zorn. Dann kam eine Macht, die alle Zustimmung wollte – selbst um den Preis, dass Menschen ins Schweigen flohen oder sich nur noch mit einem Stück Brot beschäftigten. So blieb niemandem Zeit, von der Freiheit zu träumen, zu der er erschaffen wurde – oder den Verstand zu gebrauchen, den Gott ihm geschenkt hat.“
Einen Moment schwieg er. Dann fuhr er fort – ruhig, aber mit Nachdruck:
„Ein Mensch kann kein wahrer Muslim sein, solange er nicht an die Würde glaubt, die Gott ihm verliehen hat – und sie auch nutzt: indem er denkt, fragt, versteht. Habt ihr nicht gelesen, was in der Sure Al-Isra steht, Vers 70?
‚Und wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt.‘
Diese Worte stellen die Würde vor die Angst. Sie setzen die Ehre an den Anfang des Menschseins – nicht Demütigung, nicht Unterwerfung unter ein ewiges Bild eines zornigen Gottes. Denn Gott ist – in unserer Religion – der Barmherzige, der Edle, der den Menschen ehrt.“
Numan sprach weiter, seine Stimme zitterte nun leise – durchdrungen von einer schmerzlichen Gewissheit. In seinen Augen flackerte das lange unterdrückte Feuer der Fragen:
„Hat Gott – gepriesen sei Er – nicht gesagt, in der Sure Al-Baqara, Vers 256:
‚Es gibt keinen Zwang im Glauben. Der richtige Weg ist klar erkennbar geworden gegenüber dem Irrweg.‘?
Wie können wir dann Herzen durch Religion erschrecken – und den Verstand einsperren? Diese Worte anerkennen die Freiheit im Glauben. Sie erzwingen ihn nicht. Sie zeigen dem Suchenden den Weg – aber lassen ihm die Wahl, ob und wie er ihn geht.“
Alle schwiegen. Es war, als hätten Numans Worte einen Schleier von längst verdrängten Bedeutungen gelüftet. Mit einer Ruhe, in der sich das stille Leid seiner Erfahrungen widerspiegelte, sprach er weiter:
„Im Vers 22 der Sure al-Anfal heißt es: ‚Wahrlich, schlimmer als das Vieh bei Allah sind die Tauben und Stummen, die keinen Verstand gebrauchen.‘
Das ist eine deutliche Warnung an jene, die ihre Vernunft verwerfen und blindlings folgen – sei es aus Angst oder aus bloßer Nachahmung.
War das nicht genau das, was wir getan haben?“
Abu Raschid senkte langsam den Kopf, als würde er eine alte Schuld eingestehen. Dann seufzte er leise:
„Ja… Wir haben gebetet, gepriesen, geweint beim Hören von Strafen. Aber selten haben wir gelächelt über Seine Barmherzigkeit.
Fast schien es, als hätten wir mehr Angst vor Gott, als dass wir Ihn geliebt hätten.“
Numan sah ihn mit stiller Anteilnahme an und sagte:
„Und im selben Buch – gepriesen sei Er – steht in Sure an-Nisa, Vers 58: ‚Allah befiehlt euch, die anvertrauten Güter ihren Besitzern zurückzugeben und, wenn ihr richtet, unter den Menschen gerecht zu richten.‘
Was könnte klarer sein? Der Schlüssel zur Herrschaft ist Gerechtigkeit – nicht Furcht.
Macht ist ein Vertrauensgut, keine Lizenz zur Unterdrückung.“
Der alte Großvater, Abu Mahmoud, hörte aufmerksam zu. In seinem Gesicht schien sich etwas zu lösen – als sei ein Fels in seinem Inneren gesprungen.
Und während das Schweigen wie eine Sommerwolke auf dem Hof lag, verstummte der Wind, und die Blätter in den Ecken des Gartens ruhten – als hätte die Zeit selbst entschieden, Numans Worten freien Lauf zu lassen.
Dann klang Abu Raschids Stimme, leise und scheu – eher zu sich selbst als zu den anderen:
„…Haben wir Gott wirklich geliebt? Oder haben wir uns einfach nur gefürchtet?“
Er schwieg einen Moment. Dann sprach er weiter, sein Atem schwer und lang:
„Ich habe gezittert, wenn ich vom Höllenfeuer hörte – und geweint.
Doch wenn ich von Seiner Barmherzigkeit las… habe ich nie gelächelt.
Und genau da liegt der Unterschied.“
Er bat um Erlaubnis zu gehen – er hatte die Stimme seines Sohnes hinter der Mauer gehört, die ihn rief.
Abu Mahmoud beugte sich leicht nach vorn, stützte sich mit beiden Händen an den Stamm des Olivenbaums, hob langsam den Kopf – und seine Augen wanderten in ferne Weiten:
„Vielleicht… haben wir vergessen, dass Liebe nicht die Furcht verdrängt – sondern sie aufrichtet.
Wer aufrichtig liebt, fürchtet nicht wie einer, der flieht – sondern fürchtet wie einer, der vermeiden will, den zu verletzen, den er liebt.“
Leise näherte sich Großmutter Umm Mahmoud, die dem Gespräch aus dem Fenster ihres Zimmers gelauscht hatte. Sie setzte sich neben ihren Mann, ihre Hände lagen gefaltet im Schoß, ihre Augen glänzten feucht, als sie flüsterte:
„Zum ersten Mal höre ich, wie über den Glauben so gesprochen wird … Nicht mit dieser Angst, mit der man uns als Kinder eingeschüchtert hat.“
Numan nickte langsam, sein Blick warm, und erwiderte:
„Deshalb sage ich immer: Wir müssen die Texte lesen und hören – aber mit reinen Herzen. Nicht mit Köpfen, die sie zur Einschüchterung oder Kontrolle benutzen.“
Die Großmutter rieb sich nachdenklich die Hände, während sie sagte:
„Wir haben die Verse wie Lieder aufgesagt, wie Schüler ein Morgenlied – ohne innezuhalten, ohne zu fragen, ohne sie zu hinterfragen … Vielleicht deshalb haben sie uns nie wirklich verändert.“
Für einen Moment herrschte Stille. Als hätten alle Anwesenden alte Gebete erinnert, die einst aus Furcht gesprochen wurden, Tränen, die aus Angst flossen – ohne dass je jemand gefragt hätte: Wo war die Liebe? Wo der Mensch in all dem?
Plötzlich durchbrach das leise Rauschen des Windes das Schweigen. Er zog durch den Innenhof wie ein tiefer Atemzug, ließ Blätter rascheln und Äste flüstern – als wollten selbst die Bäume das Gesagte bestätigen.
Numan sah den anderen in die Augen und sprach ruhig:
„Wir wollen keinen Glauben, der uns klein macht. Der uns weinen lässt in Ecken der Angst. Wir wollen einen Glauben, der uns wachsen lässt, der uns verstehen lässt. Einen Glauben, der uns aufrichtet, der uns mit erhobenem Blick durch das Leben gehen lässt – nicht gekrümmt im Staub.“
Großvater Abu Mahmoud schwieg lange. Dann räusperte er sich, seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch – als spreche er mehr zu sich selbst als zu den anderen:
„Vielleicht waren wir zu hart. Mit euch, mit uns selbst. Wir wollten euch schützen – und haben euch mehr aufgebürdet. Und nie haben wir gefragt: War das wirklich Liebe? Oder war es Angst vor einem Zorn, den wir uns größer vorgestellt haben als die Barmherzigkeit dessen, der uns erschuf?“
Numan sah ihn an. Die Worte des Alten trafen ihn wie eine alte Wunde, die sich erneut öffnet – doch seine Stimme blieb sanft, als er antwortete:
„Und wir, Großvater, wir sind nicht gekommen, um euch zu richten – sondern um zu verstehen. Und um zu vergeben. Ihr hattet eure Zeit. Und wir haben das Recht, unsere zu gestalten.“
Die Luft im Raum schien sich zu klären. Als hätte sich ein Schleier gelöst, der lange auf ihren Herzen gelegen hatte. Stille legte sich über sie, diesmal nicht bedrückend, sondern friedlich.
Dann erklang der Ruf des Muezzins zur Mittagszeit – klar und fern – und jeder ging stillschweigend zu seinem Gebet.

An der Schwelle zum Traum – Teil 04