An der Schwelle zum Traum – Teil 05

An der Schwelle zum Traum – Teil 05
„Du hast den ganzen Abend kein Wort gesagt. Hätte Muna nicht nach dem Fest gefragt, hätten wir heute wohl keinen Laut von dir gehört.“

Langsam hob Numan den Blick, als müsste er eine schwere Decke von seiner Brust heben. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, zitternd, wie ein Urteil, das er über sich selbst sprach:

„Ja… vielleicht. Und doch hast du recht, Onkel. Ich fühle mich… wie jemand, der am Rande einer Niederlage steht und es nicht eingestehen kann.“

Seine Hände waren ineinander verschränkt, als hätten unsichtbare Fesseln sie zusammengebunden. Muna schaute ihn an – ihre Augen weit, voll stummer Bestürzung. Ihre Stimme bebte leicht, als sie fragte:

„Woher kommt dieses Gefühl, Numan?“

Er seufzte, als grabe er in einer Erinnerung, die schwer auf ihm lastete. Dann sagte er leise:

„Ich hielt mich immer für stark in der arabischen Sprache. Vor allem, nachdem du mich an die Note erinnert hast, die ich im Abitur erreicht hatte… die Note, die mir den direkten Zugang zur Arabistik ermöglichte.“

Muna neigte leicht den Kopf, als wolle sie einen verborgenen Faden Wahrheit freilegen:

„Und du bist stark. Doch… woher kommt dann dieser Zweifel?“

Einen Moment lang schwieg Numan, dann sprach er mit dem Ton eines Menschen, der sich mit seiner Enttäuschung versöhnt hat:

„Ich will dir nichts vormachen. Weder dir noch mir selbst. Es sind jetzt zwei Monate seit unserem Studienbeginn vergangen. Und doch… besuche ich jeden Morgen den Unterricht mit dir — und am Abend schleiche ich heimlich zu Professor Asim Baitars Grammatikvorlesungen.“

Munas Augenbrauen hoben sich vor Überraschung. Ihre Stimme schärfte sich, als hätte sie einen verborgenen Sinn aufgespürt:

„Und was zieht dich zu diesen abendlichen Grammatikstunden?“

Dann hielt sie inne, nur für einen Augenblick, und sprach weiter – mit einem leisen Schmerz, den sie in ihrer Stimme nicht ganz verbergen konnte:

„Oder… bin ich für dich nicht mehr wirklich da? Hat dich jemand anderes in seinen Bann gezogen?“

Numan zuckte zusammen, hob beide Hände, als schwöre er einen Eid:

„Um Himmels willen, Muna! Denk doch nicht so etwas! Es geht nur… um das Fach. Um die Grammatik. Das Fach, das Professor Asim unterrichtet.“

Muna neigte leicht den Kopf. Ihre Stimme war sanfter geworden, aber sie trug eine leise Unruhe in sich:

„Und was ist mit der Grammatik?“

In diesem Moment schien Numan eine Fessel zu lösen, die ihn lange gebunden hatte – als hätte er eine Last von seinen Schultern geworfen. Ohne Umschweife sagte er:

„Ich verstehe sie einfach nicht. Wenn ich Professor Asim zuhöre, kommt es mir vor, als ob er in Rätseln spricht – in einer Sprache, die ich nie gelernt habe, obwohl ich einmal glaubte, sie zu beherrschen.“

Muna konnte nicht anders – sie lachte. Und sie lachte lange. In ihren Augen lag ein Glanz aus neckender Zuneigung, warm und voller Leben. Dann sagte sie, beinahe feierlich:

„Warum, glaubst du, haben wir beide uns im Arabistik-Studium eingeschrieben? Doch nicht, weil wir die Sprache schon beherrschen – sondern um sie zu lernen. Um sie zu verstehen. Um ihr näherzukommen.“

Numan senkte den Blick, seine Stimme war von zögernder Verlegenheit getränkt:

„Ja, aber… du verstehst. Du diskutierst, stellst Fragen, antwortest sogar mit. Und ich… ich fürchte mich jedes Mal, wenn Professor Asim eine Frage in den Hörsaal wirft, dass er mich anschaut.“

Muna runzelte die Stirn, ihre Stimme war nun ruhig und nachdenklich:

„Und? Kommst du abends in die Vorlesung, um zu verstehen, was du morgens nicht konntest?“

Er nickte kaum merklich und flüsterte:

„Ja.“

Sie schwieg einen Moment, als ob sie seine Worte in sich wirken ließ. Dann sagte sie, mit einem Ton, der Zärtlichkeit und Entschlossenheit zugleich trug:

„Numan, es fehlt dir nicht an Wissen – sondern an Vertrauen. Du hast Angst, dich vor allen zu irren, also schweigst du und ziehst dich zurück. Aber Grammatik ist kein göttlicher Funken und kein unlösbares Rätsel. Sie ist wie die Sprache selbst – sie öffnet sich dem, der ihr mit kindlichem Herzen begegnet, nicht mit der Angst eines Schuldigen.“

Numan machte eine ausladende Geste mit beiden Händen in die Weite des Zimmers, als wollte er jenes unsichtbare Gewicht zeigen, das manche Dozenten auf die Schultern der Studierenden legen. Seine Stimme mischte Erstaunen mit leisem Widerstand:

„Siehst du nicht, Muna, wie leicht es manchen Professoren fällt, mit kalter Stimme einfach zu sagen: Raus! – nur weil ein Student sich versprochen hat oder ein Wort falsch konjugierte, während er sich bemühte, zu antworten?“

Dann schwieg er. In seinen Augen loderte etwas, das sich jeder Sprache entzog – eine alte Angst, geboren aus Schweigen, Warten und Türen, die sich schlossen, lange bevor man anklopfen konnte.

Muna blickte ihn lange an. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme ruhig –doch unter der Oberfläche lag eine warme, stille Empörung: „Wir lernen doch Arabisch, oder nicht?“

„Doch!“, entfuhr es Numan hastig –wie jemand, der im letzten Moment nach einem rettenden Seil greift.

Sie fuhr fort, ihre Stimme klar wie ein Spiegel, der nicht nur spiegelt, sondern hinterfragt: „Wozu das alles, wenn der Dozent uns nicht hören darf? Wenn wir nicht wagen dürfen, falsch zu liegen oder richtig? Ist Sprache nicht etwas, das gelebt werden muss –im Reden, im Antworten, im Irrtum? Oder ist sie nur ein Schatz, den wir zur Prüfung auspacken und danach wieder vergraben?“

Numan war von ihren Worten überrascht. Ein kurzer Moment der Stille folgte –aber es war kein gewöhnliches Schweigen. Es war ein Echo, das nicht nur den Raum füllte, sondern die inneren Wände vieler zum Klingen brachte.

Er senkte den Kopf, als hätte ihn eine unerwartete Wahrheit getroffen, und sagte leise, mit einem Ton, in dem ihr Widerschein noch nachhallte: „Vielleicht… vielleicht suche ich in jeder Vorlesung nach mir selbst –und finde mich nicht. Dann gehe ich wieder, schwerer als zuvor. Und jedes Mal, wenn du die Hand hebst, eine Frage stellst oder eine Bedeutung klärst, flüstert etwas in mir: ( Siehst du? Da ist jemand, der hierher gehört. Aber du… du nicht.)“

Muna trat näher, legte ihre Hand leicht auf seine –und Numan zuckte zusammen, als hätte sie eine alte Narbe berührt. Mit sanfter Stimme sagte sie: „Diese Stimme… sie lügt. Sie hat genauso Angst wie du. Und wenn du ihr zu lange lauschst, wird sie zu deiner eigenen –und du wirst vergessen, wie du wirklich bist.“

Lange sah Numan ihr in die Augen, und etwas in ihm begann sich zu lösen. Dann flüsterte er: „Weißt du… wenn jeder Zweifel einen Menschen wie dich hätte, der ihm zuhört, würden so viele Herzen nicht in die Irre gehen.“

Ein leises Lachen kam über seine Lippen –ein unsicheres, zitterndes Lächeln zwischen der Angst in der Brust und dem zaghaften Berühren eines Traums. Es war kein Lachen der Freude, sondern jenes eines Menschen, der versucht, an den nächsten Schritt zu glauben –und dabei noch zittert.

Dann sprach er –mehr zu sich selbst als zu ihr: „Morgen… morgen werde ich den Dozenten nach der Vorlesung ansprechen. Ich werde ihm eine Frage stellen –damit er mir hilft, einen Weg zu finden. Bestimmt hat er schon viele getroffen wie mich: Schüler mit guten Noten in Arabisch –aber aus dem naturwissenschaftlichen Zweig. Und trotzdem –am Anfang verloren.“

Da erschien auf Munas Gesicht ein Lächeln, voller Ruhe und Licht. Sie lachte sanft –als wollte sie in einem dunklen Raum das Fenster öffnen.

Sie berührte mit dem Zeigefinger leicht seine Brust – die sich wie eine verborgene Welle unter einem schüchternen Wind hob und senkte – und sagte mit einer Stimme, die zugleich sanft und bestimmt klang: „Hab keine Angst vor dem Wissen. Sei einfach… ehrlich.“

In diesem Moment stand die Zeit still. Es war, als wäre ihre Aussage kein bloßer Ratschlag, sondern ein Spiegel, in dem Numan sich selbst erkennen konnte – so, wie er sein sollte, nicht so, wie ihn seine Ängste zeichneten.

Am nächsten Morgen begleitete Muna ihn, mit Schritten, die zwischen Entschlossenheit und Zögern schwankten, zum Büro von Professor Asim Bitar.

Ein Ledersessel stand reglos in der Ecke, Bücher lagen scheinbar zufällig auf den Regalen verstreut, als würden sie uraltes Wissen flüstern. Die Wanduhr schlug in gleichmäßigen Takten – eine leise Mahnung an die Vergänglichkeit der Zeit. Alles in diesem Raum strahlte eine Würde aus, die Neuankömmlinge einschüchtern konnte.

Numan klopfte zögerlich an die Tür. Professor Asim erlaubte ihnen mit ruhiger Stimme, einzutreten. Nach einer höflichen Begrüßung nahmen sie Platz. Dann sprach Numan leise, fast wie eine Bitte:

„Verzeihung, Herr Professor… dürfte ich vielleicht im Dialekt sprechen? Die Sprache – besonders die Grammatik – erscheint mir schwerer, als man es sich vorstellen kann.“

Professor Asims Gesicht hellte sich auf. Keine Spur von Überraschung war in seinen Augen, nur ein leichtes Anheben der Brille, bevor er mit ruhigem Ton antwortete: „Wir alle haben diesen Weg beschritten, Numan. Die Grammatik ist am Anfang widerspenstig, aber sie freundet sich mit jenen an, die Geduld mit ihr haben.“

Numan atmete tief durch und erzählte offen, wie verloren er sich manchmal in den Hörsälen fühlte – wie ihm die Regeln der Grammatik wie fremde Zaubersprüche vorkamen, in einer Sprache, die ihm nicht vertraut war.

Der Professor schwieg einen Moment, als würde er in seiner Erinnerung nach ähnlichen Geschichten suchen, dann sagte er:

„Wenn du wirklich lernen und vorankommen willst, schlage ich dir einen strukturierten Plan vor – Schritt für Schritt, gemeinsam. Nicht das zählt, was du in der Schule erreicht hast, sondern das, worauf du jetzt hinarbeitest.“

Numan blickte zu Muna. In ihren Augen lag ein Leuchten, wie das Licht eines Morgens nach einer langen Nacht. Und er selbst? Die Furcht war nicht mehr dieselbe. Was er nun spürte, war ein ehrliches Verlangen, neu zu beginnen.

In den folgenden Tagen war Numan nicht mehr derselbe Student, der sich in den hintersten Ecken des Hörsaals versteckte, aus Angst, vom Blick des Dozenten erfasst zu werden. Jetzt saß er in den vorderen Reihen – sein Herz klopfte immer noch, aber diesmal aus Hoffnung, nicht aus Angst.

Eines Tages, als Professor Asim eine mutige grammatikalische Analyse von Numan besprach, lächelte er und sagte: „Du schreibst wie jemand, der einst den Stift fürchtete… und ihn nun umwirbt.“

Die anderen Studierenden lachten – ein leises, wohlwollendes Lachen –, und Numans Gesicht rötete sich sichtlich. Doch hinter der Röte lag kein Schamgefühl, sondern etwas wie stilles Staunen. Zum ersten Mal war sein Name in einem akademischen Raum gefallen – nicht als Randnotiz, sondern als jemand, der etwas Wertvolles beigetragen hatte.

Nach der Vorlesung ging Muna neben ihm her, ihre Augen funkelten vor Freude, die sie nicht zu verbergen suchte.

„Siehst du?“ sagte sie mit einem Lächeln, das zugleich zärtlich und stolz wirkte. „All das war schon in dir. Du hast es nur nicht gesehen.“

Er atmete tief durch, als hätte er einen langen, steilen Weg hinter sich gebracht, und antwortete leise:

„Es ist, als würde ich meine Sprache neu entdecken… als lernte ich gerade, mich selbst zu verstehen.“

Ihr Vater war wie immer früh aufgewacht. Mit sanfter Stimme rief er sie zum Frühstück, bevor sie zur Universität aufbrechen würde. Der Morgen war frisch und voller Leben – der Duft von warmem Brot lag in der Luft, während aus dem kleinen Garten hinter dem Haus das Zwitschern der Vögel herüberwehte.

Er saß ruhig am Tisch, und kaum hatte er das erste Wort gesprochen, neigte er sich ihr mit stiller Herzlichkeit zu. In seiner Stimme schwang eine leise Erinnerung mit – wie ein Hauch aus einer fernen Zeit:

„Ich habe ein Institut in Damaskus gefunden – es heißt Institut der Republik. Dort unterrichtet ein Professor, mit dem ich einst in Frankreich studiert habe. Ich habe mit ihm gesprochen. Morgen beginnt dort ein Intensivkurs. Die Unterrichtszeit ist relativ kurz – etwa drei Stunden täglich am Abend –, aber es gibt keine Pausen zum Essen oder Ausruhen. Der Kurs dauert nur sechs Monate. Und wenn ihr euch weiter vertiefen wollt, könnt ihr danach an einem ähnlichen Aufbaukurs teilnehmen.“

Dann wandte er sich leicht zu Muna, in seinen Augen ein aufmunterndes Leuchten. Mit einem vertrauten Lächeln fragte er:

„Was meinst du dazu?“

Numan erschien zur gleichen Zeit – als hätte Muna ihn mit ihrer freudigen Stimme direkt aus seinen Gedanken gerufen. Er sah zu Herrn Ahmad, hob leicht die Augenbrauen – wie einer, der seine glückliche Überraschung kaum verbergen kann – und sagte mit einer Stimme, warm wie ein lang ersehntes Lächeln:

„Kein Problem… im Gegenteil – ehrlich gesagt, ich habe mir genau so eine Verbindung von Arbeit und Lernen immer gewünscht. Muna und ich haben sogar schon einmal darüber gesprochen.“

Dann drehte er sich zu ihr – seine Augen fragten zuerst, sanft, einladend, wie jemand, der einem anderen Herzen das Recht zur Entscheidung schenkt, noch bevor die Worte fallen:

„Und du, Muna – was meinst du?“

Muna schwieg einen Moment, als hätte die Frage sie für einen Augenblick innehalten lassen, um die Tiefe des Schrittes zu begreifen, den sie zu tun bereit war. Dann hob sie den Blick zu Numan. In ihren Augen lag eine Mischung aus Dankbarkeit und zögerndem Misstrauen, als wollte sie ihm heimlich fragen: „Verstehst du mich wirklich so tief?“

Mit leiser, doch bestimmter Stimme sagte sie schließlich: „Ich will diese Chance. Und ich werde sie auf meine Weise nutzen. Ich möchte niemandem gleichen und niemanden zufriedenstellen — nur mich selbst.“

Dann wandte sie sich ihrem Vater zu. In ihrem Gesicht lag dieses Licht, das man in den Augen eines jungen Mädchens sieht, das seine ersten mutigen Schritte auf einen Traum hin macht: „Ich werde am Kurs teilnehmen und selbst wählen, was ich lernen will. Und wenn es eine Veränderung erfordert — dann soll es so sein.“

Numan und Herr Ahmad tauschten einen stillen Blick, der Erleichterung ausdrückte — und noch etwas anderes, das am Horizont aufblitzte: ein neuer Anfang.

„Ich bin auch einverstanden… unter einer Bedingung“, sagte Herr Ahmad.

Er schaute seine Tochter fragend an, die mit einem scherzhaften Lächeln antwortete: „Dass du unsere Zeichnungen nicht überwachen wirst, so wie damals, als du meine Schularbeiten kontrolliert hast!“

Alle lachten, und die Stimmung lockerte sich, ein Hauch von Humor vertrieb die Förmlichkeit des Gesprächs.

Herr Ahmad zog ein Blatt Papier aus seiner Tasche und reichte es Numan. „Also, ihr solltet morgen um fünf Uhr abends am Institut sein. Die Adresse steht auf diesem Zettel, und ich werde den Professor anrufen, um ihm zu sagen, dass ihr kommt.“

Numan nahm das Blatt mit beiden Händen, als halte er ein Ticket zu einer Reise, deren Ziel noch unbekannt war. Leise und dankbar flüsterte er, während in seinen Augen ein Lichtpunkt aufflackerte, der aus den Tiefen seines Herzens zu strahlen schien: „Danke euch… Ich fühle, dass ich an der Schwelle zu einer neuen Erfahrung stehe — einer, die Kunst und Leben zugleich enthält.“

Am Abend des folgenden Tages…

Nach den Vormittagsvorlesungen und einer kurzen Pause nach dem Mittagessen fuhr das Taxi mürrisch durch die Straßen des Viertels „Al-Mazra‘a“. Im Inneren saßen zwei Träumer nebeneinander, Numan und Muna, als wären sie aus derselben Erde gewachsen.

Das matte Licht der winterlichen Dezembersonne, verborgen hinter schweren Wolken, schlich sich sanft über die alten Bürgersteige von Damaskus. Es berührte die Stadt mit einer Zärtlichkeit, als wolle es sich von einem geliebten Menschen verabschieden, kurz vor dem Sonnenuntergang.

Numan starrte schweigend aus dem Fenster, sein Gesicht ein stiller Spiegel aus Leben und Erwartung. Es war, als wolle er den vorbeiziehenden Weg tief in seinem Gedächtnis speichern, bevor das Unbekannte begann.

Neben ihm blätterte Muna in einem kleinen Heft. In der Nacht zuvor hatte sie darin eine einfache Skizze eines zweistöckigen Hauses gezeichnet — mehr Traum als Bauplan.

Mit einem Finger deutete sie auf die Zeichnung und sagte mit einem leichten, neckischen Ton:

„Weißt du, Numan? Als ich klein war, habe ich mir das Zimmer zehnmal neu eingerichtet, bevor ich meinen Vater bat, das Bett zu verrücken.“

Numan lächelte und flüsterte einfühlsam:

„Also hat die kleine Ingenieurin in dir schon früh stillen Widerstand geleistet.“

Muna lachte leise und erwiderte mit einem Augenzwinkern:

„Und du? Wer wohnte denn in dir?“

Numan blickte noch einen Moment in die Ferne bis zum Ende der Straße, dann seufzte er, als würde er eine unerforschte Erinnerung ausgraben:

„Vielleicht… war es ein Kind, das von einem Haus mit Balkon träumte, der auf einen Fluss blickt — ohne jemals vertrieben zu werden.“

Muna schwieg eine Weile, als hätte sie das Ungesagte gelesen. Dann strich sie sanft über seine Hand, ihre Stimme pulsierte vor Versprechen:

„Wir werden dir einen Balkon zeichnen… der zu deinem Traum passt.“

Das Taxi hielt vor dem alten, weißen Gebäude des „Institut al-Jumhuriya“, umgeben von stillen Zypressen, die es ehrfurchtsvoll umrahmten.

Am Eingang hing ein hölzernes Schild, auf dem in eleganter Schrift stand: „Institut al-Jumhuriya“.

Gemeinsam traten sie ein, mit einer Mischung aus Vorsicht und Hoffnung in ihren Schritten.

Im Anmeldebüro empfing sie ein lächelnder Mann, der einige Akten durchblätterte und sagte: „Ihr seid also die neuen Studierenden, die Professor Ahmad geschickt hat, richtig?“

Numan nickte rasch und stellte sie vor: „Ja, das ist Muna, und ich bin Numan.“

Nachdem die Daten erfasst waren, drückte er auf eine kleine Klingel neben sich.

Muna sah zu Numan hinüber und zwinkerte ihm leise zu: „Also sind Herzen am Rand verboten!“

Leicht lachend erwiderte er mit selbstbewusster Stimme: „Und Balkone in Form von Vogelflügeln schon gar nicht.“

Kurz darauf erschien ein junger Mann in Institutsuniform und bat sie, ihm zum zugewiesenen Hörsaal zu folgen.

Gemeinsam stiegen sie die Treppen hinauf. Im Flur lag der Duft von altem Kreidepuder, vermischt mit dem Geruch von Holzplatten für technische Zeichnungen. Studenten und Mitarbeiter bewegten sich beinahe geräuschlos, fast wie in einer Bibliothek.

Im Hörsaal setzten sie sich nebeneinander. Muna legte ihr Heft auf den Tisch, während Numan einen dunklen Bleistift hervorholte, als wolle er damit eine neue Phase einläuten.

Dr. Riyad trat ein, gekleidet in seinen grauen Anzug und mit seiner metallgerahmten Brille. Er stellte sich vor die Tafel, blickte zu den Studierenden und sprach mit vollem, klaren Ton: „Willkommen zu eurem Intensivkurs in Architekturdesign. Hier zeichnen wir nicht bloß Wände, wir formen die Bedeutung neu – zwischen Licht und Schatten, zwischen Idee und kalkuliertem Bruch.“

Muna und Numan tauschten einen kurzen Blick aus, als hätte seine Rede eine tiefe Saite in ihnen berührt.

Numan flüsterte: „Endlich fühle ich mich angekommen – an einem Ort, an dem ich lernen werde, meine Träume zu gestalten.“

Munas Augen leuchteten, und sie hauchte: „Und wir werden ein Team sein… nicht wahr?“

Mit einem Lächeln antwortete er: „Ja, ein Team… das zeichnet und lebt.“

Ein ganzer Monat war vergangen, seit Numan und Muna ihren Kurs in technischer und architektonischer Zeichnung begonnen hatten. Herr Ahmad hatte Numan ein eigenes Zimmer im Haus eingerichtet – ein schlichtes Schlafzimmer mit einem kleinen Bücherregal, einem Schreibtisch zum Lernen und einem speziellen Tisch für die technischen Zeichnungen, die Herr Ahmad ihm auftrug. Daneben stand ein Bett zum Ausruhen, ein Holzkleiderschrank, sowie ein angrenzendes Badezimmer und eine kleine Küche. All das bot Numan die idealen Voraussetzungen, um ungestört zu arbeiten, zu lernen und ab und zu in Ruhe zu lesen.

Tag für Tag setzten sie ihre Studien mit Begeisterung fort, unter dem Dach des „Republik-Instituts“ in einem Saal, der von Architekturlinialen und Modellen belebter Gebäude erfüllt war – Bauwerke, die zuerst auf weißem Papier geboren wurden, bevor sie Wirklichkeit wurden.

Während die Tage schnell vergingen und der Frühling seine ersten Finger über den Kalender legte, öffnete die Universität erneut ihre Tore. Die Hörsäle, die Notizbücher, die Flure der Fakultät – sie sehnten sich nach den Schritten der Studierenden und füllten sich langsam wieder mit Leben.

Eines Abends, als sie zusammen in der vertrauten Ecke der Bibliothek im Haus ihrer Eltern saßen, hob Muna den Blick von ihrem Notizbuch und sprach ruhig, als wolle sie eine lange überlegte Idee aussprechen: „Numan… was, wenn du den Kurs alleine weitermachst und ich wieder zu den Vorlesungen an der Uni gehe?“

Numan blinzelte überrascht, sah sie einen Moment lang an, legte dann den Stift zur Seite und sagte leise: „Du willst den Kurs aufgeben? Warum? Hast du nicht gesagt, dass er in dir eine Seite berührt, die du vorher nicht kanntest?“

Sie fuhr mit den Fingern über die Ecke einer Seite, auf der eine Spiraltreppe skizziert war, und antwortete: „Ja, ich mag den Kurs immer noch. Aber die Stunden am Institut sind lang und anstrengend, und die Vorlesungen an der Uni werden immer schwieriger. Ich will keine von beiden vernachlässigen. Du liebst diese Art des Lernens mehr, und vielleicht brauchst du es jetzt mehr als ich… Was meinst du?“

Numan schwieg einen Moment, betrachtete ihr ruhiges Gesicht und antwortete dann mit einem Ton, der eher Dankbarkeit als Zustimmung ausdrückte: „Ich fürchte, ich könnte dir etwas Schönes vorenthalten… Aber du hast Recht. Ich kann weitermachen und dir abends berichten, was ich gelernt habe. Vielleicht versuchen wir auch, hier zusammen Übungen zu machen, so als säßen wir noch immer nebeneinander.“

Sie lächelte und schrieb am Rand der Seite: „Das ist die beste Aufteilung… und ich werde auf dich als zuverlässige Quelle zählen!“

Leicht lachend fügte Numan hinzu: „Aber ich habe eine Bedingung.“

Sie zog die Augenbrauen überrascht hoch: „Eine Bedingung? Welche?“

Mit einem Lächeln lauschte er dem Klang des Märzs, der die Gardinen am Fenster bewegte: „Dass du mir erlaubst, bei jeder neu gezeichneten Linie ein kleines Fenster zu deinem Herzen einzufügen – damit mir keine schöne Einzelheit entgeht.“

Muna lachte und flüsterte: „Ich stimme zu… mit der Bedingung, dass ich das Fenster des Lichts in deinen Lektionen bin.“

Von jener Nacht an hatten sie eine neue Routine: Morgens gingen sie gemeinsam zu den Hörsälen der Universität, hörten den Vorlesungen zu und notierten Details über „Islamische Literatur“, „Rhetorik“, „Grammatik“ und weitere Fächer.

Abends widmete sich Numan dem Kurs mit Hingabe: Er schrieb Notizen, machte Fotos und sammelte Beispiele.

Und sie, am Abend zurück an ihrem vertrauten Platz, am alten Holztisch unter dem gelben Lampenschein, trafen Wissenschaft und Kunst aufeinander, verschmolzen Worte mit Linien und formten Wissen neu – als wäre es ein Bild, das von zwei Herzen gemeinsam gemalt wird.

An einem grauen Samstagmorgen verließ Numan früh sein Haus. Begleitet wurde er vom stillen Flüstern der nassen Gassen, die vom Tau des März glänzten, und vom warmen Duft des Kaffees, den seine Mutter ihm zubereitet hatte. Mit einem leisen, liebevollen Flüstern gab sie ihm ihren gewohnten Segen mit auf den Weg: „Gott öffne sie dir mit deinem Gesicht, mein Sohn…“

Pünktlich um acht Uhr saß er auf der hölzernen Bank, neben ihm Muna, im vierten Saal der Philosophischen Fakultät. Am Abend, um fünf Uhr, fand man ihn allein auf der gleichen Holzbank im großen Zeichensaal des „Republik-Instituts“, umgeben von dem leisen Kratzen der Stifte, die ihre ersten Linien in das dicke Papier ritzten, und dem Murmeln der Studenten, die Maßstäbe und Lineale hin und her bewegten.

Plötzlich hob Numan den Kopf, als der Professor mit schwerem Akzent ihn fragte: „Numan… quel est le centre visuel dans cette élévation?“

Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens antwortete Numan selbstbewusst: „Das visuelle Zentrum ist das bogenförmige Tor in der Mitte der Frontwand. Ich habe darauf geachtet, dass es mit der Schattenlinie an der rechten Ecke harmoniert.“

Der Professor nickte anerkennend: „Très bien, continuez.“

Um acht Uhr abends, als die Schatten langsam die Straßen von Damaskus bedeckten, schloss Numan sein Skizzenbuch und verließ das Institut, um sich auf den Weg zu Herrn Ahmeds Haus zu machen.

Im warmen Bibliothekszimmer wartete Muna bereits auf ihn. Gerade hatte sie einen frischen Krug grünen Pfefferminztees vorbereitet. Sie zeigte auf ihr offenes Heft und sagte: „Heute in der Vorlesung haben wir die Entwicklung im Aufbau des islamischen Gedichts besprochen – vom Verfall zur Weisheit. Der Dozent fragte nach einem Vers von Zuhair ibn Abi Sulma: Wer sich in vielen Dingen nicht verbirgt, wird von Zähnen zerkratzt und vom Stachel zertreten. Wir sprachen über die politische Schlauheit in der Dichtung… Hast du davon etwas gelesen?“

Numa setzte sich auf den Stuhl gegenüber, stellte seine Tasche beiseite und antwortete: „Heute haben wir gerade über das Design von Regierungsgebäuden gesprochen und darüber, wie man durch visuelle Komposition Autorität hervorhebt… Dabei fiel mir dieser Vers während der Erklärung ein.“

An einem grauen Samstagmorgen nickte Muna lachend und sagte: „Also… Numan verbindet Zahir mit Ibn Dschinni und Abu Tammam mit der Fassade! Das ist eine Leistung!“

Numan lächelte zurück und antwortete: „Weißt du, jedes Mal, wenn ich eine Fassade zeichne, denke ich an die M‘allaqa… und jedes Mal, wenn ich ein Gedicht lese, sehe ich ein Fenster, das sich zur Welt öffnet.“

Sie setzten sich und begannen gemeinsam, die Übungen des Tages durchzugehen. Muna schrieb mit, stellte Fragen zu den passenden Schatten bei den Lichtwinkeln in der Zeichnung, während Numan sie nach dem Konzept des thematischen Übergangs in den Einleitungen der Ruinen-Lyrik fragte.

Am Ende der Sitzung herrschte ein sanftes Schweigen, dann sagte Numan leise: „Muna… ich weiß nicht, ob du fühlst, was ich fühle… aber jedes Mal, wenn wir hier sitzen, entdecke ich etwas Neues über mich selbst.“

Sie blickte in ihr Notizbuch und antwortete: „Ich fühle es, Numan… und ich denke, dass wir zusammen nicht nur lernen, sondern das Leben neu ordnen.“

An einem der letzten Abende kam Numan müde nach Hause, eine lange Rolle voller mit Bleistift beschriebener Blätter in der Hand, und in seinen Augen glänzte ein Lichtpunkt wie ein Vorbote des kommenden Morgens.

Muna empfing ihn in dem warmen Studierzimmer, das Herr Ahmad extra für sie eingerichtet hatte. Der Raum duftete nach alten Büchern und frisch gebrühtem Kaffee, von der Decke hing eine kupferne Lampe, die ihr Licht auf den großen Tisch warf.

Numan rollte den Plan auf dem Tisch aus und sagte: „Schau, das ist das Projekt, das uns der Ingenieur am Institut aufgetragen hat. Wir sollen ein Modell für eine öffentliche Bibliothek entwerfen, die Funktion und Ästhetik vereint. Ich habe mit den Innenräumen begonnen, die dem Raum ähneln, in dem wir gerade sitzen.“

Muna betrachtete den Plan aufmerksam und wies auf feine Details hin: „Und diese engen Gänge? Denkst du nicht, sie könnten den Besucherstrom behindern?“

Numan antwortete geduldig und mit Überzeugung: „Nein, das ist beabsichtigt… Ich möchte, dass jeder Besucher eine Art stille Erfahrung macht, als würde er durch die Flure des Wissens wandern – wie jemand, der in seiner eigenen Erinnerung spaziert.“

Muna lachte und lehnte sich an die Tischkante: „Ich hatte an eine lange Fensterreihe gedacht, die auf einen Garten blickt, sodass das Licht ein Teil des Raums wird, nicht nur eine Beleuchtung.“

„Wunderbar… Dann sollten wir unsere beiden Konzepte verbinden, dein Text und meiner… und so zwei Autoren eines Gebäudes werden, das einem Traum gleicht.“

Sie schwieg eine Weile, als wäre das Schweigen selbst ein Teil ihres Schaffens. Dann sagte Muna: „Numan… diese Erfahrung hat uns verändert. Ich spreche nicht nur vom Beruf, sondern von etwas Tieferem… Wir sehen den Raum jetzt als seelischen Zustand und das Zeichnen als Sprache.“

„Ja… und es ist schön, dass ich dich besser verstehe, wenn du von ästhetischen Dimensionen sprichst oder bewusst ein Wort fehl am Platz setzt, um Überraschung zu erzeugen.“

Muna streckte die Hand aus, um Numans Blätter zu ordnen, und flüsterte: „Wir müssen das Projekt pünktlich fertigstellen… Lass uns deinen französischen Professor zum Lächeln bringen und dem Institut zeigen, dass aus solcher Zusammenarbeit wunderschöne Texte entstehen – über das Maß hinaus.“

Der Saal war in ein sanftes, weißes Licht getaucht, das von den Lampen hing, die an der metallischen Decke befestigt waren. Es fiel wie ein klarer Wintermondschein auf die Zeichenbretter und die langen Tische herab. Numan stand neben Muna, seine Hemdkragen leicht nervös gerichtet, während Muna mit einem Baumwolltuch einen Staubfleck vom Glas wischte, das ihr gemeinsames Modell bedeckte.

Vor ihnen lag das Modell – ihr gemeinsames Projekt – das die Idee des „beweglichen Raums im Haus“ verkörperte. Klassische Architekturlinien verschmolzen mit modernen Offenheitskonzepten, und die Idee glitt elegant durch die gewölbten Durchgänge und die offen gestalteten Wohnzimmer, die zum Licht des Innenhofgartens hin geöffnet waren.

Professor Lucien Vié, ein eleganter Mann in seinen Sechzigern, betrat langsam den Raum. Bedächtig ging er auf das Modell zu, in der Hand hielt er ein kleines Heftchen und trug halbrandige Brille. Er war ein alter Freund von Herrn Ahmad und war heute eingeladen worden, die Projekte der Kursgruppe zu bewerten – dank seiner langjährigen Erfahrung in der Lehre moderner Architektur an Pariser Universitäten.

Langsam trat er an den Projekttisch heran und warf einen ersten, vollkommen schweigenden Blick darauf. Dann fragte er mit einer französisch gefärbten, von Arabisch durchwirkten Stimme: „Wer sind die Autoren dieses Projekts?“

Numan hob die Hand und antwortete ruhig: „Wir sind es, Herr Professor… Muna und ich.“

Lucien lächelte leicht, richtete seine Brille und neigte den Kopf zu Herrn Ahmad, der von der Ecke aus zusah, und sagte scherzhaft: „Haben Sie uns etwa solche Talente vorenthalten, Ahmad?“

Herr Ahmad lachte und erwiderte: „Sie sind noch nicht offiziell meine Studenten, aber ich beobachte sie genau.“

Der Professor beugte sich über das Modell, prüfte die Ecken und Details, ließ seinen Blick zwischen den Linien, den Maßverhältnissen und der Lichtführung im Beleuchtungsplan schweifen.

Dann richtete er sich wieder auf, zog die linke Augenbraue hoch und sagte: „Die Idee der mehrfachen Tiefen in diesem Projekt… beeindruckend. Wer hatte diesen Vorschlag?“

Numan und Muna tauschten einen kurzen Blick aus, dann lächelte Muna und erklärte: „Es war eine gemeinsame Idee, doch Numan bestand darauf, das Konzept des offenen, sich ausdehnenden Raums im Haus zu erproben.“

Der Professor nickte anerkennend: „Klug… Raum in der Architektur ist nicht nur das, was gebaut wird, sondern das, was gefühlt wird… und ihr habt es geschafft, aus diesem Modell etwas spürbar zu machen…“

Er wandte sich direkt an Numan: „Haben Sie Architektur studiert?“

Numan zögerte einen Moment, antwortete dann: „Ich habe davon geträumt, doch mein Weg führte mich zunächst zur Literatur… Aber jetzt versuche ich, ein Stück jenes Traums wiederzufinden – gemeinsam mit Muna.“

Professor Vié blickte Muna lange an und sagte abschließend: „Wenn Traum auf Design trifft und Wissen auf Geschmack, entsteht etwas, das der Kunst ähnelt… Dieses Werk, Herr Ahmad, ist kein gewöhnliches Kursprojekt, sondern die Skizze eines Talents, das noch geschliffen werden kann.“

Herr Ahmad räusperte sich und sagte: „Siehst du, Numan? Das ist das Lob eines meiner angesehensten Professoren… darauf kannst du stolz sein.“

Numan lächelte schüchtern und flüsterte, während er seinen Blick zu Muna wandte: „Ohne sie hätte ich mich nie getraut, eine Farbschachtel zu öffnen oder eine Idee auf Papier zu zeichnen.“

Muna antwortete mit sicherer Stimme: „Und ohne dich hätte ich mich nicht auf eine einzige Einzelheit eingelassen, und nie gelernt, wie man einen Traum in etwas Greifbares verwandelt.“

An einem Tag, nachdem die Grammatikvorlesung beendet war, blieb Numan an seinem Platz sitzen. In seiner Brust schien eine Frage zu brennen, die sich weigerte, im Dunkeln zu bleiben. Er ging nicht mit den anderen Studenten hinaus, sondern wandte sich leise, aber mit entschlossener Stimme an Professor Asim: „Professor, darf ich Ihnen eine Frage stellen, die nicht zum Lehrplan gehört?“

Der Professor hob den Blick und las in Numans Gesicht eine Erwartung, die nicht zu übersehen war. „In der Wissenschaft gibt es nichts außerhalb des Lehrplans, wenn die Frage ehrlich ist“, antwortete er.

Numan sprach weiter: „Ich habe nachgedacht… Ist Grammatik nur eine Sammlung von Regeln für richtiges Schreiben? Oder ist sie etwas Größeres? Etwas, das einer Landkarte unserer selbst ähnelt – uns Arabern?“

Der Professor schwieg einen Moment, als höre er endlich, was er seit Jahren gehofft hatte, und sagte dann: „Numan, Grammatik ist nicht nur Sprache… sie ist der Spiegel des Verstandes und die Landkarte des Denkens. Wenn du lernst, einen Satz zu ordnen, lernst du, deinen Gedanken Struktur zu geben. Und wenn du die Deklination verstehst, weißt du, wie ein Wort an seinem Platz steht – so wie ein Mensch in seiner Zeit stehen sollte.“

Muna hörte zu, lehnte ihren Rücken an den Tisch und ihre Augen glänzten stolz, als sähe sie, wie Numan neu geboren wurde.

Numan fragte: „Warum sagt man uns das nicht gleich zu Beginn? Warum behandeln wir Grammatik wie eine Strafe?“

Der Professor antwortete: „Weil viele Sprache lehren, als würden sie einen Körper ohne Seele unterrichten. Aber du – du hast begonnen, ihren Puls zu hören.“

Der Saal war halb gefüllt, und Professor Asim ordnete seine Papiere auf dem Tisch. Bevor er ging, sah er zu den Studierenden und sagte mit einer Stimme, die Ernst und Humor vereinte: „Heute machen wir ein kleines Experiment… Ich gebe euch einen Satz aus dem Leben, nicht aus dem Buch. Wer ihn tiefgründig analysiert, bekommt von mir einen Stift.“

Ein leises Kichern ging durch den Raum, gefolgt von einem aufgeregten Murmeln. Auf der Tafel stand der Satz, in klarer Handschrift geschrieben:

„Manchmal schweigt die Wahrheit, um das schwache Herz nicht zu überfordern.“

Numan starrte auf die Worte, als versuche er, einen emotionalen Code zu entschlüsseln. Muna hingegen griff nach ihrem Stift, unterdrückte ein Lächeln – sanft, wie jemand, der eine Melodie erkennt – und hob dann leise die Hand.

Der Lehrer nickte ihr zu und sagte schmunzelnd: „Bitte, Muna. Erlöse uns von diesem schwer zu verdauenden Satz.“

Sie begann ruhig zu sprechen, mit einer Stimme, die zwischen Analyse und Poesie balancierte: „‚Schweigt‘ – ein Präsens, aktiv, mit deutlicher Endung. ‚Die Wahrheit‘ – das Subjekt, weiblich, bewusst schweigend, nicht verschwiegen. ‚Manchmal‘ – ein Adverb der Zeit; es deutet auf Wandel, auf das tückische Moment. ‚Um zu‘ – ein Ausdruck des Zwecks, nicht der Härte, sondern der Zartheit. ‚Überfordern‘ – ein Infinitiv, der eine Belastung andeutet, eine, die vermieden werden soll. ‚Das Herz‘ – das Objekt, Ziel des Schutzes. ‚Schwach‘ – ein Attribut, nicht als Urteil, sondern als Zustand.“

Sie hielt inne. Dann fügte sie hinzu – mit einem Blick, der etwas Sanftes durch den Raum trug: „All das, nur um zu sagen: Die Wahrheit entscheidet sich manchmal für Barmherzigkeit statt für Enthüllung.“

Die Klasse applaudierte, fast wie im Theater. Numan flüsterte sich selbst zu, mit einer Mischung aus Staunen und leiser Ehrfurcht: „Sie dekliniert keine Wörter… sie entblößt Seelen.“

Am Abend warfen die letzten Sonnenstrahlen lange Schatten auf die Fenster von Munas Zimmer. In einer Ecke leuchtete eine kleine Schreibtischlampe über offenen Sprachbüchern und Übungsblättern, die vor Farben und Randnotizen lebten. Numan saß ihr gegenüber, trank Tee mit bedächtiger Vorsicht – als könne ihm in ihrer Gegenwart jedes unbedachte Wort entgleiten und zu viel verraten.

Muna blätterte in ihrem Heft, ohne aufzusehen, und sagte mit einem fast spielerischen Ernst: „Die heutige Übung ist anders. Ich lege dir einen Satz vor, und wir streichen gemeinsam ein Wort daraus. Danach bauen wir ihn grammatikalisch und inhaltlich neu auf – als würden wir ein zerrissenes Gedicht behutsam wieder zusammensetzen.“

Numan überlegte einen Moment lang, dann sagte er mit einem leisen, zögernden Lächeln: „Und was, wenn ich das ganze Gedicht ruiniere?“

Muna lachte, warm und aufrichtig. „Dann baue ich es mit dir wieder auf … In dieser Sprache bist du nicht allein.“

Sie griff nach einem Blatt Papier und schrieb mit sicherer Hand: „Der Mensch schafft seinen Ruhm durch Geduld und Wissen.“

„Lass uns ‚Wissen‘ streichen“, sagte sie plötzlich. „Was passiert dann?“

Numan schwieg. Dann hob er den Kopf und sagte nachdenklich: „Dann gehört der Ruhm dem, der geduldig ist, nicht dem, der viel weiß. Wir könnten sagen: Der Mensch schafft seinen Ruhm durch Geduld und Einsicht. … eine sanfte Variante.“

Ihre Augen leuchteten. „Sehr klug … Du kannst nicht nur grammatikalisch denken – du denkst wie ein lebender Sprachforscher.“

Numan legte die Hand auf seine Brust und sagte halb im Scherz, halb im Ernst: „Dann darfst du also beruhigt sein, Frau Professorin Muna.“

Sie reichte ihm eine frische Tasse Tee, lächelte und sagte: „Aber nur, wenn du mir nach der nächsten Vorlesung einen Kaffee der Grammatik servierst.“

Sie lachten. Und das Licht begleitete sie – durch die Nacht des Lernens und des Wissens.

–––

An einem dieser warmen Morgende an der Universität betraten Numan und Muna gemeinsam den vierten Hörsaal. Doch diesmal war es anders. Er schlich nicht mehr durch die Schatten, wie früher. Etwas war in seinem Schritt – etwas Neues. Etwas, das nicht mehr zu den Tagen von gestern passte.

Sie setzten sich wie gewohnt in die erste Reihe. Muna warf ihm einen flüchtigen Blick zu – ein Blick, der sagte: „Zeig ihnen, wer du bist.“

Professor Asim Baytar trat ein, seine Augen wanderten prüfend über die Reihen der Studierenden, wie jedes Mal. Dann stellte er sich hinter das Pult, seine Stimme fest und klangvoll: „Wer von Ihnen möchte sich heute an der Analyse dieses Satzes versuchen?“

Er schrieb an die Tafel: „Der Erfolg wird nicht geschenkt – er wird errungen.“

Stille senkte sich über den Raum. Einige Köpfe sanken, Augen flüchteten in Hefte. Als wäre das Wort ein Pfeil.

Doch Numan … hob die Hand.

Die Brauen des Professors hoben sich leicht. Ohne ein Wort deutete er auf Numan.

Langsam stand Numan auf. Jeder Schritt in Richtung Tafel ließ das Pochen seines Herzens lauter werden – als würde es selbst grammatikalisch sein Zittern bekennen. Doch dann erinnerte er sich an Muna: „Sei ehrlich zur Sprache…“

Er trat fest vor den Satz, der an der Tafel stand, und sagte mit ruhiger Stimme: Grammatikalische Analyse und Satzgliederung:

Der Erfolg

Subjekt des Satzes

der: bestimmter Artikel, Nominativ, maskulin, Singular

Erfolg: Nomen, maskulin, Singular, Nominativ

wird

Hilfsverb im Präsens, 3. Person Singular

Bildung des Passivs (Präsens Passiv)

nicht

Negationspartikel, verneint das Verb

geschenkt

Partizip II von „schenken“

Prädikatsteil im Passiv (Partizip als Teil des Passivsatzes)

– (Bindestrich)

trennt die beiden Hauptsätze

er

Personalpronomen, Nominativ, 3. Person Singular

Subjekt des zweiten Satzes (bezieht sich auf „Der Erfolg“)

wird

Hilfsverb im Präsens, 3. Person Singular, Passivbildung

errungen

Partizip II von „erringen“

Prädikatsteil im Passiv (Partizip als Teil des Passivsatzes)

Zusammengesetzte Erklärung:

„Der Erfolg“ ist das Subjekt des Satzes im Nominativ.

„wird“ ist das Hilfsverb, das hier das Passiv bildet.

„nicht“ negiert das Verb „geschenkt“ (Partizip II), das die Handlung im Passiv ausdrückt: „Der Erfolg wird nicht geschenkt“ = Der Erfolg wird nicht gegeben.

Im zweiten Satz steht „er“ wieder als Subjekt, mit gleicher Funktion wie „Der Erfolg“.

Das Verb „wird errungen“ ist das Passiv, wobei „errungen“ das Partizip II von „erringen“ ist, was bedeutet, dass der Erfolg „erstritten“ oder „erworben“ wird.

Er endete. Und schwieg.

Der Professor sah ihn lange an – prüfend, vielleicht auch anerkennend. Dann sprach er langsam:

„Gut, Numan… besser als zuvor.“

Ein leises Kichern glitt aus Munas Richtung. Sie versteckte ihr Lächeln hinter dem Deckblatt ihres Hefts.

Numan kehrte auf seinen Platz zurück. Es fühlte sich nicht an, als würde er auf dem Boden gehen, sondern auf einer Zeile aus dem Versmaß des Triumphs.

Ein Kommilitone neben ihm beugte sich herüber und flüsterte: „Wer hat dich trainiert?“

Numan blickte zu Munas Sitz, und antwortete leise:

„Wenn Syntax von einer wahren Meisterin gelehrt wird, wird selbst sie… verständlich.“

Nach sechs Monaten unermüdlichen Lernens, in denen Muna und Numan Tag und Nacht mit voller Hingabe an der Umsetzung des Plans arbeiteten, den ihr Grammatiklehrer vorgegeben hatte, begann nun die entscheidende Prüfung.

Der Lehrer schrieb ein Gedicht an die Tafel und bat alle Schüler, die genaue grammatische Analyse – Wort für Wort, Satz für Satz – auf einem separaten Blatt niederzuschreiben. Diese Analyse sollte nicht nur präzise und ausführlich sein, sondern auch alle grammatischen Regeln nennen, die in dem Gedicht vorkamen oder auf die es anwendbar war. Zudem sollten sie jeweils ein Beispiel aus der alten Dichtung anführen, das die jeweilige Regel bestätigte.

Jeder Schüler musste seinen Namen oben auf das Blatt schreiben, denn von diesem Tag an sollte für jede korrekte, vollständige und genaue Analyse eine von zwanzig möglichen Punkten in der Jahresbewertung vergeben werden.

Das zu analysierende Gedicht lautete:

„„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.“

“ Herbsttag“

Eine Prüfung in Grammatik

Nach der Prüfung saßen die Studenten noch lange vor dem Hörsaal und diskutierten angeregt über die grammatische Analyse des Textes:

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,“ begann Angam und zeigte auf den Satz. „‚Ich‘ ist das Subjekt im Nominativ, ‚lebe‘ das Verb im Präsens. ‚Mein Leben‘ ist das direkte Objekt im Akkusativ, und ‚in wachsenden Ringen‘ ist eine präpositionale Ergänzung im Dativ.“

Mahmud widersprach sofort: „Aber ‚in‘ verlangt hier den Dativ, deshalb ist ‚wachsenden Ringen‘ richtig dekliniert. ‚Wachsenden‘ ist ein starkes Adjektiv im Dativ Plural.“

„Genau,“ bestätigte Juli. „Und ‚die sich über die Dinge ziehn‘ ist ein Relativsatz, der ‚Ringen‘ näher beschreibt. ‚Die‘ ist das Relativpronomen im Nominativ Plural, ‚sich ziehn‘ ist das reflexive Verb.“

Die Diskussion wurde lebhafter, als Khaled hinzufügte: „Im nächsten Satz ‚Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen‘ steht ‚den letzten‘ im Akkusativ, da es das Objekt des Verbs ‚vollbringen‘ ist.“

„Ja, und ‚vielleicht‘ ist ein Modaladverb, das das Verb modifiziert,“ ergänzte Leila.

Zum Abschluss analysierten sie den letzten Satz: „‚Aber versuchen will ich ihn‘ ist eine Umstellung, typisch für die Betonung,“ erklärte Angam. „‚Versuchen‘ ist das Verb im Infinitiv, ‚will‘ das Modalverb, ‚ich‘ das Subjekt, und ‚ihn‘ das Akkusativobjekt.“

Sie lachten erleichtert und spürten, wie die komplexen grammatischen Strukturen langsam klarer wurden. „Das war eine echte Herausforderung,“ meinte Mahmud, „aber auch eine gute Übung für unser Verständnis.“

Am Tag der nächsten Grammatikstunde kam Dr. Asim, ihr Lehrer, mit den gesammelten Arbeiten in der Hand. Die Schüler hoben erwartungsvoll die Hände, um Fragen zu stellen. Doch Asim zog ein einzelnes Blatt hervor, las es langsam und sorgfältig vor und bat sie, das Gehörte wortgetreu mitzuschreiben.

Nachdem er fertig gelesen hatte, fügte er hinzu: „Ich werde nicht verraten, wem dieses Blatt gehört, das als einziges die von mir erwartete Antwort enthält. Damit soll niemand sich selbst überschätzen. Dies ist die erste von zwanzig möglichen Punktzahlen.“

Gesichter schauten sich gegenseitig an – wer mochte wohl die richtige Analyse abgegeben haben? Doch der Besitzer des Blattes schwieg, nur der Lehrer und die wenigen, die sich zuvor mit ihm über die Analyse ausgetauscht hatten, kannten die Antwort.

Die Vorlesung über die vorislamische Literatur war zweifellos eines der lebendigsten Fächer im ersten Studienjahr. Besonders, weil Professor Dr. Wahb Roumiya, mit seiner sanften Stimme und der gedanklichen Klarheit, selbst die trockensten Passagen zum Leuchten brachte. Sein Werk „Die Reise in die vorislamische Dichtung“ war nicht nur ein Lehrbuch – es war eine Einladung, mit Herz und Verstand in eine Welt einzutauchen, die weit mehr war als nur Geschichte und Versmaß.

An einem stillen Abend saßen Muna und Numan nebeneinander in der Bibliothek. Muna blätterte langsam durch die Seiten des Buches, als würde sie Schichten alter Geheimnisse aufdecken. Schließlich hob sie den Blick:

„Weißt du“, sagte sie leise, „dieses Buch spricht nicht nur von Dichtern in der Wüste… Ich habe das Gefühl, es erzählt auch von uns. Von dir und mir.“

Numan lächelte, während er sich Notizen machte. „Vielleicht, weil auch wir auf einer Reise sind“, antwortete er. „Einer anderen Art. Ohne Anfang, ohne Ziel – noch.“

Für beide war das Buch von Dr. Roumiya mehr als literaturwissenschaftliche Analyse. Es wirkte wie ein geheimer Durchgang – ein stilles Tor zu einem tieferen Verständnis von Dichtung, Menschsein und Welt. Bereits im Vorwort wurde klar: Diese Reise sei kein bloßes Wandern durch Raum, sondern ein existenzielles Erleben, ein Unterwegssein im Denken und Fühlen der alten Verse.

Nach dem Durcharbeiten des ersten Kapitels saßen sie noch beisammen, als Muna eine Zeile in ihr Heft schrieb und flüsterte: „‚Die Reise ist kein Ort – sie ist eine Frage, die in uns reist.‘ Diese eine Zeile… verdient ein ganzes Buch.“

Numan schob seine Brille näher an die Stirn, nickte und sagte mit einem Anflug von Nachdenklichkeit: „Oder sie verdient, dass wir unser eigenes Buch mit ihr beginnen. Wenn wir den Mut dazu haben.“

Das Werk war in mehrere Kapitel gegliedert. Im ersten ging es um den Begriff der Reise in der vorislamischen Dichtung. Dr. Roumiya zeigte, dass die Reise für den Araber der Wüste keine freiwillige Entscheidung war – sie war eine Notwendigkeit, aufgezwungen vom unerbittlichen Leben zwischen Sand und Sternen. Doch trotz dieses realen Ursprungs verschob sich die Reise stets ins Symbolische: Sie wurde zum Bild für Existenz, Verlorenheit, Suche, Herausforderung – und letztlich für den Sieg über das eigene Schicksal.

Das zweite Kapitel widmete sich den unterschiedlichen Formen der Reise im Dichten jener Zeit: vom inneren Aufbruch des Einzelnen, sichtbar im Stehen an den Ruinen und der Versenkung in Erinnerung, bis hin zur leidenschaftlichen Suche des Liebenden, zu den Jagden, den Kämpfen – erfüllt von Stolz, Kunstfertigkeit und dem Drang, sich selbst zu beweisen.

Muna verharrte lange bei einer Abbildung im Buch – ein einzelnes Kamel, das durch die endlose Wüste zog. Dann fragte sie leise, ohne den Blick vom Bild zu lösen:

„Glaubst du, dass ʿAntara sich wirklich einsam fühlte? Oder begleitete ihn ʿAbla in seinem Herzen auf jeder seiner Feldzüge?“

Numan lächelte nachdenklich und fuhr mit dem Finger eine Notiz in seinem Heft nach.

„Vielleicht kämpfte er nur, um ihre Augen in denen seiner Feinde zu sehen… oder er floh vor einer Schwäche in sich, wie wir manchmal vor Dingen fliehen, die wir nicht zu benennen wagen.“

In den späteren Kapiteln zerlegte Professor Rumiya die ästhetische und gedankliche Struktur der „Reise“ mit einem philosophisch-hermeneutischen Ansatz. Für ihn war das Gedicht ein lebendiges Wesen – es atmete Sinn, es dachte. Die Reise im vorislamischen Gedicht war für ihn kein äußeres Ereignis, sondern ein symbolisches Gefüge: ein innerer Riss zwischen Bewegung und Stillstand, zwischen Selbst und Welt, zwischen Sehnsucht und Schicksal.

Numan verweilte an einer Seite, die Ṭarafa ibn al-ʿAbds Muʿallaqa analysierte. Nach kurzem Schweigen sagte er:

„Vielleicht ist es genau das, was diese Dichtung unsterblich macht… Ihre scheinbare Schlichtheit verbirgt Tiefen ohne Grund.“

Muna deutete auf eine Anmerkung im Randbereich:

„Genau hier steht: ‚Der Dichter beschreibt den Ort nicht – er bewohnt ihn.‘ Ist es nicht genau das, was wir beim Lesen tun? Wir wohnen im Gedicht.“

Als die Prüfungen näher rückten, hatten Muna und Numan bereits Dutzende Verse und Passagen auswendig gelernt, die sie in gemeinsamen Sitzungen zitierten und analysierten – in Numans Zimmer zu Hause, im Uni-Café oder auf der überfüllten Treppe vor dem Vorlesungssaal.

In der Abschlussprüfung sollten die Studierenden zwischen zwei Themen wählen. Numan entschied sich für die Reise im Werk von ʿAntara al-ʿAbsi – dem kämpfenden Liebenden, der seine Siege stets ʿAbla widmete. Muna dagegen schrieb über die Fahrten Imruʾ al-Qais’: zwischen Ruinen, Jagd, Verlorenheit und Regen.

Eine Woche nach der Bekanntgabe der Ergebnisse saßen sie auf einer schlichten Holzbank im Garten hinter dem Institut. Muna hielt ein Blatt Papier in der Hand und sagte mit glänzenden Augen:

„Wir haben beide die Bestnote bekommen… ausgezeichnet!“

Numan lachte leise und blätterte in seinem Notizbuch.

„Dann haben wir wohl unsere erste Reise erfolgreich bestanden.“

Muna sah ihn lange an, dann flüsterte sie:

„Nein… jetzt beginnt sie erst.“

Der Herbstabend legte sich sanft über das Zimmer, in dem Numan und Muna saßen. Ein warmer Lichtschein fiel vom Schreibtisch auf ihre Gesichter, während draußen der Regen leise gegen die Fensterscheiben trommelte. Die Luft war durchzogen vom Duft nasser Erde und dem vertrauten Geruch alter Bücher.

Muna schloss ihr Notizbuch, nachdem sie einige Gedanken festgehalten hatte, die wie flüchtige Lichtstrahlen in ihrem Gedächtnis aufblitzten. Mit einem ungewohnten Glanz in den Augen sah sie Numan an.

„Numan, die zweite Prüfungsphase ist vorbei, und du hast darauf bestanden, das Seminar zur vorislamischen Literatur zu verschieben. War das wirklich notwendig? Oder brauchtest du einfach mehr Zeit mit den Gedichten?“

Numan lächelte nachdenklich. „Ich brauchte tatsächlich mehr Zeit – nicht nur, um die Gedichte zu verstehen, sondern auch, um uns selbst darin zu erkennen. Solche Poesie verlangt nach mehr als nur analytischem Verstand; sie fordert eine innere Reife, ein tiefes Einfühlungsvermögen.“

Muna neigte den Kopf leicht und zog die Augenbrauen fragend hoch. „Was genau meinst du damit?“

Er sah sie an, seine Augen leuchteten vor Begeisterung. „Erinnerst du dich an Professorin Aziza Mureed, die uns die arabische Bibliothekskunde lehrte?“

Muna nickte und lächelte. „Natürlich, ich erinnere mich gut an sie. Was ist mit ihr?“

Numan atmete tief ein, als würde er sich an eine längst vergangene Vorlesung erinnern. „Sie präsentierte uns oft kurze literarische Texte, manchmal nur wenige Zeilen, und dennoch verbrachten wir die gesamte Stunde damit, sie zu analysieren. Sie öffnete uns die Augen für die sprachliche Tiefe, die literarische Schönheit und die philosophischen Gedanken, die in diesen Texten verborgen waren. Es war, als würde sie uns lehren, mit verschiedenen Augen zu lesen – linguistisch, literarisch, philosophisch und musikalisch.“

Muna blickte nachdenklich auf den Tisch. „Jetzt verstehe ich, warum du wolltest, dass wir das Seminar zuletzt belegen. Aber warum hast du mir das nicht früher gesagt?“

Numan lachte leise und wandte den Blick spielerisch ab. „Weil du keinen Hinweis brauchtest, Muna. Du hast in vielen Fächern besser abgeschnitten als ich. Darf ich nicht wenigstens einmal die Nase vorn haben?“

Muna lachte herzlich, ein Klang voller Stolz und Zuneigung. „Ich sehe, du hast die Bedeutung der Reise in der Literatur – und vielleicht auch im Leben – verstanden, Numan.“

Sie legte ihre Hand unter ihr Kinn und sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Bewunderung an. „Deshalb wirkt es, als wärst du mit diesen Dichtern gereist?“

Numan nickte. „Genau. Ich fühlte mich, als würde ich wie Antara hinter Abla herlaufen, meine Schritte über unbekannte Ruinen ziehen. Jedes Gedicht schien ein Spiegel meiner eigenen Erfahrungen zu sein. Erinnerst du dich, wie oft ich die Beschreibung des Kamels wiederholte? Nicht, weil ich es auswendig lernen wollte, sondern weil es für mich ein Symbol für die Lasten und Träume wurde, die ich trage.

Haben die Dichter die Spuren verlassen? Oder hast du das Haus nach einer Täuschung erkannt?

Mit diesen Worten beginnt Antara seine Mu’allaqa, eine rhetorische Frage, die eine Herausforderung in sich trägt. Es ist, als würde er sagen: Gibt es noch unberührte Themen in der Liebe und der Betrachtung der Ruinen, die die Dichter nicht bereits behandelt haben?

Dieser Stil zeigt seinen Stolz auf seine poetische Fähigkeit, gepaart mit einer scheinbaren Bescheidenheit, als würde er anerkennen, dass andere ihm vorausgegangen sind. Die Frage ist rhetorisch und dient als Auftakt für seinen kraftvollen Eintritt in die literarische Arena.“

Muna lächelte und legte ihre Hand auf Numans. „Und jetzt, da wir diese Reise gemeinsam begonnen haben, bin ich gespannt, wohin sie uns noch führen wird.“

Der Regen draußen hatte aufgehört, und ein klarer Himmel spannte sich über die Stadt. Im Inneren des Zimmers jedoch begann gerade erst eine neue Reise – eine Reise durch Worte, Gedanken und gemeinsame Träume.

„Doch, ja…“, sagte Numan langsam, „es war, als hätte sie Professor Muhammad Ali Sultani aus dem Unterricht für Rhetorik heraufbeschworen… Und wenn es sich um ein Gedicht handelte, dann wies sie stets auf seine Musik hin – wie es einst unser Lehrer für die Poesiemusik tat. Sie weckte im Text sogar den Hauch von Geschichte, ohne je den Sinn zu verlieren.“

Er schwieg einen Moment, fuhr dann fort, während er mit der Hand zärtlich über den Einband des Buches strich:

„Damals, Muna, habe ich verstanden, dass man Literatur – sei sie Prosa oder Poesie – nicht mit nur einem Blick lesen kann. Man braucht ein sprachliches Auge, ein literarisches, ein philosophisches… und eines für die Musik. Es ist, als säße ein ganzes Gremium von Fachleuten um ein einziges Versmaß, um es aufrichtig zu deuten.“

Muna senkte nachdenklich den Blick. Ihre Stimme war leise, fast vorwurfsvoll, aber von zärtlicher Wärme getragen:

„Jetzt verstehe ich, warum du darauf bestanden hast, dass wir die Prüfung zur altarabischen Literatur zuletzt machen. Aber… warum hast du mir das nicht früher gesagt?“

Numan lachte leise und wandte sich neckisch ab, als wolle er ein Geheimnis bewahren.

„Weil du keinen Hinweis brauchst, Muna. Du warst in so vielen Fächern besser als ich… Darf ich nicht wenigstens ein einziges Mal die Oberhand gewinnen?“

Muna musste schmunzeln. Ein Ton aus Stolz und liebevoller Verbundenheit klang in ihrem Lachen mit.

„Ich sehe schon… Du hast nicht nur die Reise in der Literatur verstanden, sondern vielleicht auch die Reise des Lebens selbst, Numan.“

Sie legte die Hand unter ihre Wange und betrachtete ihn mit einem Ausdruck, der zwischen Erstaunen und Bewunderung schwankte.

„Ist das der Grund, warum du wirkst, als wärst du mit diesen alten Dichtern gereist?“

Numan nickte langsam.

„Ganz genau. Ich fühlte mich wie Antara, der hinter Abla herläuft, als zöge ich meine Schritte über Ruinen, die ich nie gekannt habe. Jeder Vers spiegelte einen Teil meines eigenen Erlebens. Erinnerst du dich, wie oft ich die Beschreibung des Kamels wiederholte? Nicht, um sie auswendig zu lernen, sondern weil sie für mich ein Symbol wurde – für all das, was ich trage: die Müdigkeit, den Traum.

‚Haben die Dichter die Spuren wirklich verlassen? Oder hast du das Haus erkannt – nach nur eingebildeter Erinnerung?‘

Mit diesen Zeilen beginnt Antara seine berühmte Mu’allaqa. Eine rhetorische Frage voller Herausforderung, fast trotzig. Als wollte er sagen: Gibt es in der Liebe, im Anblick der Ruinen, noch etwas, das nicht schon gesagt wurde?

Dieser Stil zeigt seinen Stolz auf seine poetische Kunst – und zugleich eine scheinbare Bescheidenheit. Er weiß, dass die Wege schon beschritten wurden. Doch gerade dieser Zweifel gibt ihm Kraft, mit voller Stimme auf die Bühne der Literatur zu treten.“

Muna lächelte leise, fast verträumt, während sie mit dem Finger langsam über den Rand ihrer Teetasse strich. „Weißt du, Numan… dieses Wort ‘Mutaraddam‘, das klingt für mich wie ein Ort, den die Zeit müde gemacht hat. Ein Platz, der unter den Schritten der Dichter zu bröckeln begann. Es ist nicht nur ein Bild für Trümmer… sondern für das, was zu oft gesagt wurde.“

Numan nickte langsam, seine Augen schienen in die Ferne zu gleiten, dorthin, wo die Worte alt wurden und trotzdem leuchteten. „Und Tawahhum“, fügte er hinzu, „das ist dieses zarte Zweifeln – als wäre unser Blick auf die Spuren vergangener Zeiten nur noch ein Spiel mit dem Schatten. Als wäre selbst die Erinnerung vom Wind verweht worden.“

Er schlug das Buch wieder auf, seine Stimme wurde weicher, als er rezitierte:

„Oh Haus von ʿAbla in al-Dschiwāʾ, sprich zu mir! Einen schönen Morgen dir, Haus von ʿAbla – lebe wohl!“

„Er spricht mit dem Haus, als wäre es lebendig“, murmelte er. „Nicht nur aus Tradition, sondern weil er sie liebt. Die Worte werden zur Stimme seiner Sehnsucht.“ „Takallamī“, wiederholte er. „Er bittet das Haus, zu sprechen – als wäre es ein Mensch mit Erinnerungen. Und ʿImī ṣabāḥan… diese alte Begrüßung klingt wie eine Liebkosung. Ein Gruß an die Stille.“

Muna neigte den Kopf, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch: „Ich hatte bei Imru’ al-Qais ein ähnliches Gefühl. In seinem Zögern, in seinem Wandern durch die Wüste… dieser Wechsel zwischen Sehnsucht und Unruhe, Regen und Warten. Im Examen habe ich nicht über ihn geschrieben wie in einem Bericht. Es war eher… ein Brief. Ein langer Brief an ihn.“

Numan zog die Augenbrauen zusammen, ein Funkeln von Neugier in seinem Blick: „Hast du ihn getadelt?“

Sie lachte leise, ihr Blick schimmerte warm: „Manchmal ja. Und manchmal habe ich ihn getröstet. Am Ende schrieb ich ihm: ‘Die Poesie wird uns nicht aus dem Irren führen. Aber sie gibt uns eine Karte – damit wir wenigstens begreifen, wo wir uns verirrt haben.’“

Numan lehnte sich nach vorn, stützte sich auf die Tischkante, seine Stimme wurde zum Flüstern: „Ich habe über ʿAntara geschrieben… nicht nur als Krieger. Sondern als Liebender, der kämpft, um einen Sieg zu schenken – einer Frau, die ihm nie ein klares Zeichen ihrer Liebe gegeben hat.“

Muna sah ihn an, ihre Augen weiteten sich leicht. Etwas in seinem Ton hatte sie berührt. „Sprichst du… wirklich von ʿAbla?“, fragte sie, sich ihm leicht zuneigend.

Numan antwortete nicht sofort. Er lächelte nur versonnen, sah dem zarten Dampf über seiner Kaffeetasse nach, als ob dort zwischen den Schwaden ein Gedanke schwebte. Dann sagte er leise, fast wie zu sich selbst:

„Jede Reise hat ein Ziel… und jedes Ziel birgt die Möglichkeit der Enttäuschung. Aber ich habe beschlossen, über die Liebe zu schreiben – selbst wenn sie in der Wüste endet.“

Muna lehnte sich langsam zurück. Ihre Hand legte sich über ihr Herz, als wollte sie die Worte darin bewahren. Ihre Stimme war ruhig, aufrichtig:

„Weißt du… Als ich deine Antwort las, damals, nachdem du sie mir gezeigt hast, hatte ich das Gefühl, du schriebst über einen Mann, der barfuß die Wüste durchquert. Nicht um anzukommen – sondern um nicht stehen zu bleiben.“

Numan sah sie lange an. Sein Blick blieb auf ihrem Gesicht ruhen, und dann flüsterte er:

„Manchmal ist das Ankommen nicht in unserer Hand… aber das Weitergehen schon.“

Da nahm Muna sanft seine Hand. Ihre Augen waren weich und voller Licht, als sie sagte:

„Ich glaube, wir haben diese Literaturprüfung nicht allein geschrieben… sondern gemeinsam – mit Worten und Gefühlen, über Monate hinweg. Und die Note, die wir bekamen, war verdient… weil wir die Poesie nicht nur mit dem Verstand verstanden haben, sondern mit dem Herzen.“

Ein leises Klopfen an der Tür. Dann die Stimme von Herrn Ahmad:

„Muna?“

Sie warf Numan einen Blick zu, stand auf und öffnete die Tür. Ihre Stimme war zart, fast entschuldigend:

„Papa… wir haben gerade über die Prüfung gesprochen – über das Motiv der Reise in der vorislamischen Poesie.“

Herr Ahmad trat ein, legte Numan die Hand auf die Schulter und schenkte ihm ein warmes Lächeln:

„Das klingt schön… Aber vergesst nicht: Manche Reisen brauchen einen weisen Führer.“

Numan lachte verlegen und antwortete:

„Ich denke, wir haben unseren besten Führer längst gefunden – nicht nur in der Dichtung… sondern im Leben selbst. Ganz nah bei uns.“

Herr Ahmad blickte von einem zum anderen. In seinen Augen glomm ein stiller Entschluss, als hätte sich eine Idee gerade in seinem Innersten geformt. Dann sagte er mit der Stimme eines Mannes, der etwas Schönes plant:

„Da ihr eure Prüfungen nun hinter euch habt und noch etwas Zeit bleibt, bevor das neue Jahr beginnt… Nun ja, ich könnte tatsächlich etwas Unterstützung gebrauchen – bei ein paar technischen Zeichnungen. Was haltet ihr davon?“

Numan richtete sich interessiert auf, während Muna langsam den Kopf hob, den Blick noch halb in ihrer Notiz versunken, mit einem leichten Anflug von Neugier auf den Lippen.

Herr Ahmad zog eine gefaltete Skizze aus seiner Brieftasche und lächelte:

„Hier – das ist der Grundriss.“

Es war fast zur Gewohnheit geworden: lange Gespräche, nächtliche Diskussionen und spontane Gedankenaustausche über alles Mögliche – Persönliches, Allgemeinbildung, Erfahrungen aus dem Leben. Besonders in den freien Stunden oder an gemeinsamen Abenden schien das Haus zu atmen, zu lauschen, sich zu öffnen.

In diesen drei Jahren, die sie in Freundschaft, Offenheit und Vertrauen verbanden, sprach Numan oft über sein Leben – mal von seiner Kindheit, dann wieder von seinem Schulweg oder seiner Arbeit. Doch besonders gern erzählte er von seiner Leidenschaft fürs Lesen, die mit der Zeit so selbstverständlich zu ihm gehörte wie sein eigener Atem.

Er hatte einen Schnellkurs im technischen und architektonischen Zeichnen absolviert – genug, um bei der Anfertigung der Entwürfe für das Büro von Herrn Ahmad zu helfen. Dieses Büro, das diskret von Damaskus aus auch Projekte im Libanon betreute, war für Numan mehr als nur ein Arbeitsplatz – es war ein stiller Übergang in eine Welt der Linien, Ideen und Präzision.

Trotz seiner eigenen, abgetrennten Wohnecke war Numan jeden Morgen und Abend bei ihnen. Die gemeinsamen Mahlzeiten führten fast immer in lange, warme Gespräche – voll Nachklang und Nähe.

Eines Abends, als sie zu dritt im Wohnzimmer saßen – Muna, ihr Vater und Numan – sagte er mit einem leicht schelmischen Lächeln:

„Ich möchte euch eine Phase meines Lebens erzählen… mit all ihren kleinen, vielleicht langweiligen Details. Aber ich hoffe, ich langweile euch nicht allzu sehr.“

Muna unterbrach ihn, noch bevor er weitersprechen konnte, voller Freude:

„Und ich habe nur darauf gewartet, dass du uns dein Herz öffnest. Ich will alles hören – jede Einzelheit. Aber bitte warte, bis ich zurück bin. Ich hole uns etwas, das diesen Moment perfekt macht.“

Als sie wiederkam, schenkte er ihr ein sanftes Lächeln, richtete den Blick zur Fensterscheibe – als sähe er hinter dem Glas die verblassten Umrisse einer anderen Zeit – und sagte:

„In meinem Leben gibt es nichts wirklich Außergewöhnliches… außer meiner Mutter.“

Er verstummte. Seine Stimme war plötzlich wie ein feiner Regen, der lautlos gegen ein Winterfenster fällt.

Muna beugte sich leicht zu ihm, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch:

„Deine Mutter?… Inwiefern genau?“

Er antwortete mit einer Wärme, als schreibe er einen Dankesbrief ins geheime Tagebuch seines Herzens:

„Meine Mutter war der Grund, warum mein Vater – ja, sogar mein Großvater – zugestimmt haben, mich in der Schule anzumelden. Ohne sie… wäre ich heute woanders. Ganz woanders.“

Ihr Vater hörte still zu, beide Hände auf den Knien gefaltet. Auf seinem Gesicht lag der milde Schatten einer Erinnerung – wie das Nachleuchten eines vergangenen Morgens.

„Ich erinnere mich gut an jenen ersten Schultag,“ begann Numan mit einem Lächeln, das wirkte, als spreche er mit dem Kind in seinem Inneren. „Mein Vater hat mich damals zur Grundschule begleitet. Die Schule lag nicht weit entfernt – vielleicht eine Viertelstunde zu Fuß. Aber der Weg schien mir endlos… als würde ich einer Stadt der Träume entgegengehen.“

Muna lachte leise. „Und warst du aufgeregt?“

„Ich habe die Tage gezählt, sogar die Stunden,“ erwiderte er mit leuchtenden Augen. „So oft stand ich vor dem hölzernen Schultor, starrte es an wie ein geheimnisvolles Portal. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass es sich eines Tages für mich öffnet.“

Munās Vater nickte langsam. „Die einfachsten Träume der Kindheit…“, sagte er mit ruhiger Stimme, „…sind oft die bedeutungsvollsten, wenn wir sie später erkennen.“

Numan bestätigte das mit einem stillen Nicken, dann fuhr er fort: „Der Imam der Moschee neben der Schule war ein ehrwürdiger Mann, ein alter Freund meines Großvaters. Mein Vater hatte bei ihm als Kind Koranverse auswendig gelernt – so wie ich später. Ich weiß nicht genau, warum ich mich so sehr an ihn gebunden habe. Aber ich wartete jeden Abend bei Sonnenuntergang darauf, dass er an Opas Laden vorbeiging, meine Hand nahm und mich mit zur Moschee nahm.“

Muna beugte sich leicht vor, fasziniert von der Szene: „Hattest du denn keine Angst? So klein, auf dem Weg zur Moschee im Dunkeln… und dann noch der Koranunterricht?“

Numan hielt inne, als lausche er einer vergessenen Stimme in seinem Inneren. „Ich hatte keine Angst,“ sagte er leise. „Ich hatte das Gefühl, einer heiligen Aufgabe nachzugehen. Wir beteten das Maghrib- und das Ischā-Gebet. Dazwischen lernten wir zu rezitieren und auswendig zu lernen. Der Scheich verbesserte geduldig meine Aussprache… und wenn er seine Hand auf meine Schulter legte, war es, als pflanze er etwas in mir, das nicht wieder vergehen sollte.“

Er holte tief Luft, dann fügte er hinzu: „Und wenn wir zurückkamen, übergab er mich meinem Großvater mit einem Satz, den ich nie vergessen werde: ‚Dies ist eure anvertraute Seele – ich gebe sie euch zurück.‘“

Für einen Moment wurde es still. Niemand sagte etwas.

Dann flüsterte Muna, ihre Stimme von einer leisen Bewegung durchzogen: „Wie viele solcher Anvertrauten kehren zurück… aber nie mehr so, wie sie einmal waren.“

Ihr Vater nickte zustimmend. „Doch wenn das Herz anvertraut wird – und so bewahrt bleibt, wie es der Scheich tat – dann bringt es Männer wie Numan hervor.“

Numan sprach leise, fast als würde er Erinnerungen umblättern, die die Jahre nicht verblassen lassen konnten: „Ich hörte damals manche Gespräche zwischen meinem Vater und Großvater… manchmal auch zwischen Vater und Mutter. Und immer ging es irgendwie um mich. Ich verstand einiges davon – aber vieles blieb mir verschlossen.“

Muna hob überrascht die Augenbrauen. „Um dich? Worum ging es denn genau?“

Ein Lächeln huschte über Numans Gesicht – eine Mischung aus Wehmut und zarter Trauer. „Mein Großvater war der Meinung, dass der Besuch der Moschee und das Erlernen des Korans bei dem alten Imam völlig ausreichen würden. Zur Schule zu gehen – dafür sei ich noch zu klein, meinte er. Mein Körper sei schwach. Ich würde weder den kalten Winter noch die sommerliche Hitze aushalten.“

Munas Vater nickte verständnisvoll. „Diese Generation… sie fürchtete die Krankheit mehr als die Unwissenheit. Und manchmal – vielleicht hatten sie sogar recht damit.“

Numan fuhr fort, als wolle er etwas erklären, das er selbst mehrmals durchlebt hatte: „Ehrlich gesagt – kein Monat verging, ohne dass ich für eine Woche oder länger ans Bett gefesselt war. Fieber überfiel mich plötzlich, dann eine Kälte, die durch die Knochen ging… Ich zitterte bis in die Fingerspitzen, als stünde ich mitten in einem Schneesturm.“

Munas Stimme war leise, fast besorgt: „Und wie ging man mit diesen Anfällen um?“

Numan senkte den Blick leicht und antwortete: „Mein Vater brachte mich jedes Mal sofort zum Arzt. Manchmal aber kam eine der älteren Verwandten meiner Mutter – eine von diesen weisen Frauen – und setzte mich auf einen Stuhl. Dann steckte sie ihren langen, rauen Zeigefinger in meinen Hals und drückte abwechselnd auf die Mandeln.“

Muna schnappte nach Luft und rief mit kindlichem Schauder: „Oh Gott! Hat das wehgetan?“

Numan lachte kurz auf. „Natürlich tat es weh… Aber dann kam dieser seltsame Eiter heraus, und sie sagte voller Überzeugung: ‚Das ist die Ursache für all deine Beschwerden.‘“

Munas Vater schmunzelte nachdenklich: „Die Mütter und Großmütter damals – sie wussten vieles, das man an keiner medizinischen Fakultät lernt.“

Mit einer Stimme, die sich dunkler färbte, sprach Numan weiter:

„Manchmal überkam mich das Fieber wie ein Schatten, plötzlich, ohne Vorwarnung… Ich verlor das Bewusstsein, fiel einfach zu Boden – als wäre ich eine Kerze, die im Bruchteil eines Augenblicks verlöscht.“

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann sagte Muna, als spräche sie zu dem Kind, das er einst gewesen war:

„Numan… wie zerbrechlich du warst – und zugleich, wie stark.“

Ein Lächeln glitt über Numans Lippen, erreichte jedoch nicht seine Augen. Leise erwiderte er:

„Zerbrechlichkeit schließt Stärke nicht aus, Muna… manchmal ist sie vielleicht ihre ureigene Form des Überlebens.“

Seine Stimme trug nun den zarten Schatten eines dankbaren Lächelns:

„Meine Mutter… sie sah Dinge, die sonst niemand wahrnahm.“

Muna blickte ihn nachdenklich an, als könnte sie in seinem Schweigen das erste Flüstern eines lange verborgenen Traums hören. Ihr Vater, der das Gespräch still verfolgt hatte, sagte sanft:

„So sind Mütter… ihr Herz sieht weiter als alle Augen.“

Numan fuhr fort, als würde er beim Sprechen seine Erinnerungen neu zusammensetzen:

„Sie drängte meinen Vater immer wieder: Wir müssen unseren Sohn endlich einschulen. Es darf nicht noch ein Jahr verstreichen. Wenn er jetzt zurückbleibt, bleibt er jedes Jahr zurück, immer wieder, immer weiter…“

Er schwieg für einen Atemzug, als lausche er der Stimme seiner Mutter tief in sich. Dann sprach er weiter:

„Und sie sagte auch: Wir haben unser Leben lang nicht lesen und schreiben können – blind im hellen Tag. Haben unsere Kinder es nicht verdient, es besser zu machen? Zu lernen… und uns das Leben zu lehren? Sollen sie nicht unser Spiegel zur Welt sein? Das Leben besteht nicht nur aus Brot, Wasser und Kindern – sondern aus Verstehen, Lernen und Wachsen.“

Munas Vater nickte anerkennend:

„Deine Mutter dachte, als wolle sie der Zukunft das Schreiben beibringen.“

Muna warf ihrem Vater einen Seitenblick zu und lächelte:

„Mich hat besonders dieser eine Satz berührt: Zu lernen… und uns das Leben zu lehren. So viel Tiefe in wenigen Worten!“

Numan sprach weiter, fast als folge seine Erinnerung nun einem eigenen Rhythmus:

„Aber mein Vater… er war zerrissen. Er liebte mich bis zur Angst, und er fürchtete um mich bis zur Lähmung. Seine größte Sorge war, dass ich in der Schule oder auf dem Weg dorthin einen Fieberschub erleiden könnte. Also neigte er sich schließlich dem Rat meines Großvaters zu… und schwankte beinahe zwei Jahre lang.“

Numan seufzte leise, bevor er sprach:

„Mein Vater zögerte immer wieder, mich anzumelden – mal, um sich selbst zu überzeugen, mal, um seinen Vater zu besänftigen. Er glaubte, je länger ich wartete, desto stärker würde ich werden, und die Schule wäre dann weniger belastend für mich.“

Er hielt inne, ein Hauch von stillem Stolz flackerte in seinen Augen auf.

„Aber meine Mutter war klüger. Sie schlug vor, dass ich weiterhin die Moschee besuche, wie es Großvater wünschte, und dort den Koran bei Sheikh Imam lerne. Sobald ich die Rezitation abgeschlossen hätte, würde es für alle selbstverständlich erscheinen, dass ich bereit für die Schule bin.“

Muna, neugierig geworden, fragte:

„Und hat dein Großvater zugestimmt?“

Numan lächelte sanft:

„Er stimmte zu – er fühlte sich sogar als Sieger.“

Sie lachten gemeinsam, bevor Numan fortfuhr:

„Was ihre Sorge um meine Krankheitsschübe anging, fand meine Mutter eine liebevolle Lösung. Sie bat meinen Cousin Ahmad, der zwei Jahre älter war als ich, mich zur Schule zu begleiten und auf dem Heimweg bei mir zu sein. Und er tat es.“

Munans Vater, sichtlich bewegt, sagte:

„Deine Mutter war eine ganze Schule in einer einzigen Frau.“

Muna fügte mit einem warmen Lächeln hinzu:

„Selbst wenn sie die einzige in deinem Leben gewesen wäre, hätte sie gereicht, um den Traum lebenswert zu machen.“

Numan schien in Erinnerungen zu schwelgen, als würde er Szenen eines alten Films vor seinem inneren Auge abspielen:

„Mein Vater nahm den Vorschlag meiner Mutter ohne Widerrede an. Es schien, als hätte er endlich eine Lösung gefunden, die alle zufriedenstellte. Schließlich überzeugte er auch meinen Großvater, nach langem Zögern und Schweigen.“

Muna nickte mit stiller Nostalgie und fragte behutsam:

„War der Moment, als du die Schule betratst, so, wie du es dir vorgestellt hattest?“

Numan lächelte, ein Schimmer des einst ängstlichen Kindes in seinen Augen:

„Es war eine Mischung aus Freude und Nervosität. Endlich trat ich in die Grundschule ein, die damals in einem alten arabischen Haus untergebracht war. Im Innenhof befand sich ein runder Teich, aus dessen Mitte eine kleine Fontäne leise plätscherte – wie ein kühler Atemzug am frühen Morgen.“

Mit einem leisen Staunen sagte Munas Vater: „Sogar deine Schule hat in deiner Erinnerung ein lebendiges Gesicht … Ich kenne diese alten Damaszener Häuser: Lehmwände, Strohdächer, Holzbalken – sie tragen den Duft der Zeit, wenn man darunter hindurchgeht.“

Numan schwieg einen Moment, als habe ihn etwas Innerliches gestreift. Dann fuhr er fort, ohne die Regung in seinem Herzen zu beachten: „Als ich zum ersten Mal durch das große hölzerne Tor trat, hatte ich das Gefühl, in eine Welt einzutreten, die mit allem, was ich bis dahin kannte, nichts gemein hatte. Wir betraten das Büro des Direktors. Mein Vater reichte ihm meine Unterlagen – seine Hand zitterte leicht dabei. Der Direktor zog die Augenbraue hoch und sagte mit fester Stimme: ‚Die Einschreibefrist ist längst vorbei … Das Schuljahr hat schon vor Monaten begonnen.‘“

Numan senkte die Stimme: „Mein Vater blickte ihn flehend an, bat ihn sanft und wiederholt, mich trotzdem aufzunehmen. Ich stand daneben, mit Augen voller Hoffnung und Scham – ich starrte den Direktor an, als wolle ich ihn bitten, meinem Vater die Verspätung zu verzeihen, für die er nichts konnte.“

Muna strich mit dem Zeigefinger langsam über die Tischkante und sagte leise: „Ich kenne dieses Gefühl … wenn Erwachsene still kämpfen, um ihren Kindern einen kleinen Platz in dieser großen Welt zu sichern.“

Numan nickte dankbar, dann sprach er weiter: „Während die Anspannung im Raum wuchs, trat ein Lehrer ein, grüßte und bat den Direktor um ein Klassenbuch und eine Vorladung für einen der faulen Schüler. Dann wandte er sich um – überrascht, meinen Vater zu sehen –, trat näher, begrüßte ihn herzlich und fragte nach dem Grund seines Besuchs. Mein Vater erwiderte den Gruß und bat ihn, mit dem Direktor zu sprechen. Die beiden unterhielten sich leise, fast flüsternd.“

Munas Vater murmelte nachdenklich: „Das sind diese Zufälle des Schicksals, die ganze Lebenswege verändern.“

Numan lächelte und nickte zustimmend: „Ja … Nach wenigen Augenblicken nahm der Direktor die Unterlagen aus der Hand meines Vaters. Der Lehrer trat zu mir, nahm meine Hand und sagte entschlossen: (Ich bringe Numan in meine Klasse und werde persönlich dafür sorgen, dass er den verpassten Stoff aufholt.)“.

Ein heller Glanz trat in Numans Augen, als er fortfuhr: „Es war, als hätte mir der Himmel ein Geschenk gemacht. Später erfuhr ich, dass dieser Lehrer ein entfernter Verwandter meines Großvaters mütterlicherseits war. Genau in jener Stunde waren Großvater und Großmutter zu Besuch bei uns – wie jeden Montag, dem Ruhetag der Friseure. Meine Mutter hatte ihnen erzählt, dass mein Vater mit mir zur Schule gegangen sei, aber sie fürchtete, dass man mich ablehnen würde – entweder wegen der Verspätung oder meines Alters, denn meine Altersgenossen waren inzwischen in der dritten oder vierten Klasse … Und ich? Ich stand gerade erst an der Schwelle zur ersten.“

Muna hob den Blick, berührt von einer inneren Regung, und sagte leise: „Vielleicht war die Hand dieses Lehrers die erste, die dir die Tür zum Traum geöffnet hat …“

Numan nickte langsam, seine Stimme war gedämpft, ein Hauch von Dankbarkeit darin: „Ja … und vielleicht war genau diese Hand die erste Zeile in meiner ganzen Geschichte.“

Er ließ seine Worte fließen, als ziehe er behutsam an einem alten, vergessenen Faden in einem verwobenen Tuch: „Mein Großvater wusste, dass ein entfernter Verwandter von uns an dieser Schule unterrichtete. Kaum hatte mein Vater das Haus verlassen, da stand Großvater auch schon auf, getrieben von einer Unruhe, die keinen Aufschub mehr duldete. Er machte sich auf den Weg zur Schule, fragte nach dem Lehrer und fand ihn bald. Sie sprachen miteinander, leise, fast verschwörerisch – ich weiß nicht, ob darin Vorwurf lag oder bloß Dringlichkeit.“

Muna beugte sich leicht vor, ihr Gesicht voller stiller Aufmerksamkeit, wie ein Kind, das ein Märchen weiterspinnen möchte: „Warst du noch im Zimmer des Direktors, als dein Großvater ankam?“

Numan nickte. „Ja. Ich wusste nichts von seiner Ankunft. Doch nur wenige Minuten später erschien jener Lehrer wieder im Büro. Er wirkte kurz überrascht, als er meinen Vater sah, doch er verlor keine Zeit. Er nahm meine Hand und sagte mit warmer Stimme: ›Komm, Numan. Ich zeige dir dein Klassenzimmer …‹

Ich ging mit ihm, den Blick auf den Boden gerichtet, als wollte ich diesen neuen, unbekannten Kosmos zuerst unter meinen Füßen ertasten.

Als wir an einem Klassenzimmer vorbeikamen, durchbrach ein schrilles, schneidendes Weinen die Stille – es war so durchdringend, dass es wie ein Riss durch die Wände ging.“

Der Vater von Muna runzelte die Stirn. „Weinen? Von einem Schüler?“

Numan senkte leicht den Kopf und sprach ruhiger: „Ja … Ich blieb stehen, schaute hin – ein kleiner Junge saß auf dem Stuhl aus geflochtenem Bambus, auf dem sonst der Lehrer Platz nahm. Zwei Mitschüler hielten ihn fest, während vor ihm ein großer, breitschultriger Mann stand, der mit einem dicken Stock auf die Sohlen seiner Füße einschlug.

Ein Bild, das sich eingebrannt hat – später erfuhr ich: Das war der Lehrer der Klasse.“

Muna legte erschrocken die Hand auf die Brust und flüsterte: „Mein Gott … Das ist keine Erziehung, das ist Folter.“

Numans Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als wolle er vermeiden, die schlafenden Schatten seiner Kindheit zu wecken:

„Die Szene erschreckte mich zutiefst. Mein Blut gefror in den Adern. Ich riss mich aus der Hand des Lehrers los und rannte weinend davon. Ob ich lief oder stolperte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur an die Tränen, die wie ein Strom der Angst aus meinen Augen flossen. Ich schrie so laut ich konnte:

‚Ich will nicht zur Schule! Ich mag sie nicht! Ich will nach Hause!‘

Am Schultor stand mein Großvater. Es schien, als hätte er meinen Ruf über Raum und Zeit hinweg vernommen. Er eilte zu mir. Auch mein Vater, der gerade das Büro des Direktors verlassen hatte, kam mir entgegen.“

Munans Vater schüttelte langsam den Kopf, seine Stimme war von Trauer durchdrungen:

„Solch ein Erlebnis kann einen Traum im Keim ersticken. Kein Wunder, dass du so geweint hast.“

Numan fuhr fort:

„Der Lehrer, der mich begleitet hatte, holte mich ein, nahm meine Hand erneut, beruhigte mich, klopfte mir sanft auf den Rücken und bat meinen Vater und Großvater, die Schule zu verlassen. Es schien, als wolle er mich von dem schrecklichen Bild trennen, bevor es sich unauslöschlich in mein Innerstes einbrannte.“

Er schwieg einen Moment, dann huschte ein schwaches Lächeln über sein Gesicht:

„Doch trotz der Angst ließ ich meine Schultasche nicht los – diese alte Tasche, die meine Mutter vor zwei Jahren für mich gekauft hatte, gefüllt mit allem, was ich für meinen ersten Schultag brauchte. Es war, als hielte ich an ihr fest, weil sie mein letzter Faden zu meiner Mutter war… oder zu meinem Traum.“

Muna legte eine Hand auf ihr Herz und flüsterte:

„Die Tasche war dein sicherer Hafen… deine bewegte Erinnerung.“

Numan sprach weiter, seine Stimme von einem leisen, warmen Ton durchzogen, als rufe er eine liebevolle Erinnerung hervor:

„Ich beendete mein erstes Schuljahr mit Auszeichnung – nicht aus Genialität oder Liebe zum Lernen, sondern aus einer tief verwurzelten Angst. Ich fürchtete jede Sekunde, ausgeschlossen zu werden, dass man mir sagen würde: ‚Du bist nicht geeignet!‘ oder, Gott bewahre, dass ich der Schüler sein würde, der auf dem Rattanstuhl lag und mit dem Stock geschlagen wurde. Ich erzählte meiner Mutter von dem, was ich an meinem ersten Tag gesehen hatte, von der Angst, die mich nachts aus dem Schlaf riss, als wäre es ein Albtraum, der meine Brust zerriss. Sie erkannte, dass die Lösung nicht in der Flucht lag, sondern darin, meinen Weg fortzusetzen – aber nicht allein.“

Muna hob eine Augenbraue, ihre Stimme war von Mitgefühl erfüllt:

„Hat deine Mutter deine Ausbildung selbst überwacht?“

Numan lächelte, ein anderes Lächeln, das von tiefer Dankbarkeit zeugte:

„Sie leitete sie, als würde sie ein Lehmhaus führen, das kurz vor dem Einsturz stand, mit der Geschicklichkeit von Fingern, die genau wissen, wo das Stroh zwischen dem Lehm platziert werden muss. Von diesem Tag an stellte sie einen unveränderlichen Plan auf, ein heiliges Ritual, das wir jeden Abend gemeinsam vollzogen.“

„Ein Plan?“, fragte Munas Vater, seine Stimme von aufrichtigem Erstaunen durchzogen. „Was für ein Plan?“

Numan lächelte leicht, als grabe er in der kühlen Tiefe seiner frühen Schuljahre, und begann aufzuzählen – wie jemand, der vertraut ist mit dem Takt einer täglichen Zeremonie:

„Zuerst zog ich die Schulkleidung aus. Dann wusch ich mich für das Gebet. Nach dem Gebet aßen wir gemeinsam zu Mittag. Anschließend wuschen wir unsere Hände und den Mund. Und dann… legten meine Mutter und ich uns nebeneinander auf den Boden – parallel wie zwei Linien, die sich nie verlieren. Vor uns ein Schulbuch und zwei Hefte. Ich hielt meinen Bleistift in der Hand, sie die Spitzerin – als hielte sie die Waffe bereit, geschärft für den nächsten Einsatz.

Dann begann unsere ‚Lektion‘ – aber es war mehr als Schule, es war eine Schule des Lebens:

● Die erste Aufgabe: Das Buch laut lesen, Wort für Wort. Ich sollte die Wörter buchstabieren wie der Imam in der Moschee, bei dem wir zwischen dem Abend- und dem Nachtgebet lernten. Meine Mutter ahmte seine Stimme nach – manchmal dachte ich, sie könne den Koran auswendig. Oder ich glaubte, ich würde mein Herz mit ihr auswendig lernen.

● Die zweite Aufgabe: Den Text mehrmals lesen, bis die Wörter mir nicht mehr fremd waren, bis meine Zunge nicht mehr stolperte. Als ob ich der Sprache ihre Ruhe zurückgeben wollte.

● Die dritte Aufgabe: Die Wörter ins erste Heft schreiben – ein Entwurfsheft, in dem ich das Schriftbild der Wörter nachahmte, so exakt wie möglich. Kein Punkt durfte fehlen.

● Die vierte Aufgabe: Was ich gut konnte, kam ins Aufgabenheft – das, was der Lehrer sah. Dieses Heft war mein Fenster zur Außenwelt. Und ich wollte, dass es sauber war. Klar. Hell.“

Muna sah ihn an – ein Leuchten trat in ihre Augen, während sie sich das Bild einer Mutter vorstellte, die mit stiller Liebe über ihr Kind wacht.

„Das war mehr als Fürsorge“, sagte sie leise. „Sie hat dich nicht begleitet. Sie hat dich geformt.“

Numan nickte, seine Stimme nun sanfter, fast wie eine Erinnerung, die durch ihn sprach:

„So ging es Tag für Tag. Immer unter ihrem wachen Blick, ihrem stillen Vertrauen. Irgendwann schaffte ich die Aufgaben allein – ohne Angst, Fehler zu machen. Sie hatte etwas in mir gepflanzt, das ich nicht kannte: Selbstvertrauen.

Und obwohl sie viel im Haushalt zu tun hatte, verglich sie mein Entwurfsheft genau mit dem Buch, hörte mir beim Buchstabieren zu, achtete auf meine Aussprache. Erst wenn alles stimmte, durfte ich den Text ins Schulheft schreiben.

Manchmal machten wir eine kleine Pause – tranken Tee, lachten über ein falsch gesprochenes Wort… und dann arbeiteten wir weiter, ohne dass es sich je wie Last anfühlte. So ging es bis zum Ende meines zweiten Schuljahres.“

Munas Vater strich sich über das Kinn, seine Stimme bedächtig:

„Du bist mit Liebe und Disziplin aufgewachsen – eine seltene Kombination.“

Ein Hauch kindlichen Stolzes schlich sich in Numans Tonfall:

„In der dritten Klasse habe ich zum ersten Mal ein illustriertes Buch aus der Schulbibliothek ausgeliehen. Ich las es meiner Mutter vor – dann setzte ich mich zu meinen Geschwistern, erklärte ihnen, was ich verstanden hatte, und zeigte ihnen die bunten Bilder.

Meine Mutter lächelte dabei nur und sagte:

‚Lies ihnen vor, als wärst du der Geschichtenerzähler des Viertels…‘“

Seit jenem Tag wurde ich ein regelmäßiger Besucher der Schulbibliothek. Mein Arabischlehrer half mir, passende Geschichten auszuwählen, wies mich auf geeignete Bücher hin und ermutigte mich, nicht nur mit dem Ranzen, sondern auch mit einem Buch nach Hause zu gehen. In der Lektüre entdeckte ich etwas, das einem Zuhause ähnelte – etwas, das keine Angst machte.

An diesem Punkt meiner Erzählung hob Muna sanft die Hand, als wolle sie eine Welle aus Bildern anhalten, und sagte leise, mit einem Hauch von Zögern:

„Einen Moment, Numan… Könntest du kurz innehalten? Etwas lässt mich nicht los…“

Numan sah sie mit freundlicher Verwunderung an. Sie fuhr fort, bemüht, die richtigen Worte zu finden:

„Einige deiner Schilderungen… Deine Art, die Ereignisse als alltäglich, als selbstverständlich darzustellen, erstaunt mich. Es scheint, als fehle etwas in der Geschichte, etwas, das nicht direkt ausgesprochen wird.“

Numan lächelte – ein stilles, entschuldigendes Lächeln – und sagte mit ruhiger, sicherer Stimme:

„Du wirst es verstehen, Muna… Alles, was dir jetzt noch unklar erscheint, wird sich fügen, wenn du die Ereignisse miteinander verbindest. Es ist wie beim Lesen eines weit verzweigten Romans; man kann ein Kapitel nicht isoliert begreifen. Man muss die Zeilen mit dem unsichtbaren Faden zwischen ihnen verweben.“

Munis Vater mischte sich ein, offenbar erkennend, was zwischen den Zeilen lag, und sagte lächelnd:

„Ich für meinen Teil… kann es gut nachvollziehen.“

Muna warf ihm einen scherzhaften Blick zu und sagte, den Kopf zustimmend neigend:

„Wenn ihr euch einig seid, dann fahre fort, Numan.“

Numan atmete tief durch, als tauche er in eine neue Erinnerung ein, und sagte:

„Ich erhielt mein Abschlusszeugnis der Grundschule… Ein schlichtes Blatt Papier, doch für mich war es eine Brücke – oder besser: kleine Flügel für einen Jungen, der davon träumte, zu fliegen.

Kaum hatte ich die Grundschule abgeschlossen, wurde ich ein Stammgast in der Bibliothek des Kulturzentrums unserer Stadt… Ich betrat sie wie ein Durstiger eine klare Quelle, schöpfte aus ihren Büchern, was ich wissen, lernen oder einfach nur entdecken wollte. Wenn ich zwischen ihren hölzernen Regalen saß, fühlte ich mich, als reichte ich der Welt durch die Bücher die Hand.

Trotz meiner Vertiefung in die Lektüre vernachlässigte ich nie meine schulischen Aufgaben… Ich verfolgte den Unterricht mit großer Aufmerksamkeit, als würde ich gegen etwas Unsichtbares antreten, oder als befände sich hinter jeder Frage im Buch eine Tür, deren Schlüssel ich suchte.“

Munis Vater unterbrach ihn, ein Ausdruck von Bewunderung in den Augen:

„Die Bibliothek des Kulturzentrums? Ich glaube nicht, dass viele in deinem Alter ihren Weg dorthin fanden, geschweige denn sie regelmäßig besuchten!“

Numan nickte zustimmend und seine Stimme trug einen Hauch von Erstaunen:

„Ja… Für viele in unserem Dorf war sie ungewohnt, doch für mich fühlte sie sich wie ein zweites Zuhause an. Doch die Überraschung kam diesmal nicht aus den Büchern, sondern aus dem eigenen Haus.“

Neugierig trat Muna ein wenig näher, als wolle sie ein Geheimnis erhaschen:

„Eine Überraschung? Was ist denn passiert?“

Numan senkte kurz den Blick, als wolle er die alte Szene vor seinem inneren Auge heraufbeschwören, dann sprach er leise:

„Nach meinem Abschluss in der sechsten Klasse lud mich mein Vater zu einem Gespräch mit meinem Großvater ein… So etwas war nicht üblich, ich wurde selten zu solchen Treffen gerufen. Damals wusste ich nicht, was mich erwartete, aber an der Stimme meines Vaters und der Stille im Haus spürte ich, dass dieses Gespräch einen Wendepunkt markieren würde…“

Ein kurzer Moment der Stille herrschte, in dem auch Muna und ihr Vater mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörten, als wollten sie eine sich öffnende Tür vernehmen.

Nicht lange darauf begann der Großvater mit seiner ehrwürdigen Stimme zu sprechen, die manchmal Weisheit und manchmal Entschlossenheit ausstrahlte. Er richtete seine Turban gerade und sagte:

„Mein Sohn, dein Vater ist ein armer Mann. Er kann die Last der Ausbildung und der Kosten nicht alleine tragen. Er hat noch andere Kinder, für die er sorgen muss, so wie er für dich gesorgt hat, so gut er konnte. Du hast viele Sommerferien im Laden mitgeholfen, und ich habe deinen Lohn deinem Vater gegeben, damit er dir Kleidung, Hefte und Stifte kaufen kann. Deshalb habe ich ihm vorgeschlagen, dass du bei mir arbeitest und das Friseurhandwerk lernst. Doch dein Vater möchte nicht, dass du die Härten dieses schweren, schlecht bezahlten Berufs kennenlernst. Deshalb haben wir beschlossen, mit dir zu sprechen, in der Hoffnung, eine andere Beschäftigung zu finden, mit der du dich und deine Familie unterstützen kannst.“

Das Gespräch überraschte mich nicht, genau wie meine Mutter es vorhergesehen und mich auf eine solche Stunde vorbereitet hatte. Mit Würde wandte ich mich an sie beide und sagte, die Wirbelsäule gerade richtend, als stünde ich vor einem milden Gericht:

„Darf ich einen Vorschlag machen? Eine Möglichkeit, die mich zufriedenstellt und gleichzeitig eure Lage berücksichtigt?“

Mein Großvater blickte mich neugierig an, lehnte sich dann zurück und lächelte:

„Dann leg mal los, Junge.“

Mit Zuversicht und einem Funken Hoffnung in der Stimme erwiderte ich:

„Ich habe einen Klassenkameraden, Salim, der Sohn unseres Nachbarn. Vor zwei Tagen bot er mir an, mit ihm zusammenzuarbeiten… Die Arbeit ist lohnend, und der Lohn reicht, um meine persönlichen Ausgaben für ein ganzes Jahr zu decken, einschließlich meiner Schulsachen.“

Vater zeigte sich sichtlich begeistert, beugte sich vor und fragte gespannt:

„Was für eine Arbeit ist das? Und wer ist dein Freund?“

Ich antwortete schlicht und klar: „Mein Klassenkamerad heißt Salim, ihr kennt ihn gut… Die Arbeit ist auf einer Baustelle, als Betonarbeiter.“

Für einen Moment herrschte Stille im Raum, bevor mein Vater die Stirn runzelte, und eine Wolke der Sorge in seiner Stimme aufstieg: „Betonarbeiter? Das ist eine harte Arbeit, Numan… Sie erfordert viel körperliche Kraft und Ausdauer unter der brennenden Sonne und den glühenden Eisen. Nein… Ich halte das nicht für geeignet für dich!“

Ich sah ihm mit selbstbewussten Augen entgegen und sagte mit leisem, aber bestimmt hoffnungsvollem Ton: „Lasst mich es versuchen. Wenn ich merke, dass ich nicht durchhalte, höre ich auf. Aber im Moment sehe ich keine andere Arbeit, die mein Studium so gut finanzieren könnte wie diese.“

Muna sagte nichts, doch ihr Gesicht zeigte eine Mischung aus Bewunderung und Verwirrung. Dann wandte sie sich zu ihrem Vater und fragte ihn wortlos mit den Augen: „Würdest du ihn daran hindern, wenn er dein Sohn wäre?“

Er antwortete nicht, sondern schenkte mir nur einen tiefen Blick, als sähe er einen Jungen, der versucht, zu früh ein Mann zu werden.

”Nach einer ruhigen Diskussion, geführt mit Herzen voller Verständnis, kamen wir zu einer stillen Übereinkunft, die mehr aus unausgesprochenen Blicken bestand als aus großen Versprechen. Es gab keine großen Worte, nur Blicke voller Zustimmung und Zufriedenheit.

Am ersten Licht des folgenden Morgens begann ich meine Arbeit. Die Arbeit war hart… ja, hart für einen Jungen, der kaum die Kindheit hinter sich gelassen hatte. Doch aus Gründen, die ich bis heute nicht ganz verstehe, entschied ich mich, die Bitterkeit für mich zu behalten. Kein Klagen, kein Seufzen, kein Anzeichen von Schwäche. Jeden Abend kam ich zurück, wusch den Staub des Eisens und den Schweiß von meinem Körper, und schrieb meinen Lohn in ein kleines Heft, unter der Obhut meiner Mutter.

Meine Mutter versteckte das Geld an einem geheimen Ort in unserem einzigen Zimmer, jenem Zimmer, das uns mein Großvater gegeben hatte, wie ein kleines Stück Hoffnung mitten in der Enge des Lebens. Zwischen uns bestand ein stilles Versprechen: Sie versteckte, ich sammelte… als würden wir gemeinsam einen warmen Mantel weben, den wir an den ersten Schultagen tragen würden.“

Numan hielt kurz inne, als wolle er eine Szene aus einem alten Film wiederbeleben, dann fuhr er mit sanfterer Stimme fort: „Eines Abends schaute ich auf das Gesicht meiner Mutter, das Spuren der Erschöpfung trug, und sagte liebevoll zu ihr: ‚Mama, brauchst du etwas? Ich habe genug für das nächste Schuljahr, und ich kann auf meinen nächsten Monatslohn verzichten – nur für dich.‘“

Muna lächelte, und in ihren Augen blitzte sanfte Überraschung auf: „Du hast in dem Alter so gedacht? Das ist viel für einen kleinen Jungen…“

Ihr Vater lächelte und nickte zustimmend: „In solchen Häusern wachsen die Jungen schnell, Muna… Träume allein reichen nicht, es braucht auch Mühe, die den Weg ebnet.“

Numan fuhr fort: „Meine Mutter lächelte – ein Lächeln, das dem Regen gleicht, der sanft auf einen durstigen Zweig fällt. Dann holte sie das Geld hervor und zählte es vor mir.

Ich beobachtete sie, und bemerkte, dass der Betrag weniger war als der, den ich notiert hatte. Ich schwieg, doch sie sah den Zweifel in meinen Augen und fragte sanft, ohne einen Hauch von Vorwurf: ‚Hast du etwas ohne mein Wissen genommen?‘

Ich winkte ab und antwortete: ‚Das hätte ich nicht getan, und ich weiß sowieso nicht, wo du das Geld versteckst.‘

Plötzlich änderte sich ihr Gesichtsausdruck, eine schwere Stille senkte sich auf sie, und ihre Tränen flossen – stille Tränen, als fielen sie in mich hinein, nicht auf ihr Gesicht.

Ich trat zu ihr, wischte ihre Tränen mit meiner zitternden Hand weg und sagte innig: ‚Bei Gott, Mama, belaste dein Herz nicht über seine Kraft hinaus! Das ganze Geld der Welt ist nicht einen einzigen Tropfen deiner Tränen wert.‘

Muna senkte schweigend den Kopf, berührt von meinen Worten, und murmelte: ‚Trägst du das alles alleine?‘

Numan erzählte weiter: „Am nächsten Tag beendete ich meine Arbeit früh und ging auf den Markt. Ich suchte etwas, das das Herz meiner Mutter beruhigen und unsere Mühe bewahren würde.

Ich kaufte eine kleine eiserne Kiste mit einem festen Schloss. Zuhause war niemand, ich schloss die Tür hinter mir, eilte in den Hintergarten, holte eine Leiter, eine kleine Grabewerkzeug und einen Behälter.

Ich stellte die Tür ab, stützte die kleine Schranktruhe meines Bruders dagegen, dann stellte ich die Leiter unter das hohe Fenster im Südwall – das Fenster, durch das ein Sonnenstrahl fiel, wie ein goldener Faden, der am Himmel hing.

Ich kletterte hinauf, grub ein Loch, das genau groß genug für die Kiste war, mitten im Boden der Fensterbank. Dann legte ich das Geld hinein, eingewickelt in Stoff und weiches Leder, und bedeckte das Loch sorgfältig.

Ich stellte alles wieder an seinen Platz, stieg leise herunter, wusch mich, zog meinen Schlafanzug an und setzte mich an den Tisch, um auf die Rückkehr meiner Mutter und meiner Geschwister zu warten.“

Als sie zurückkam, sah ich sie mit Augen voller Vertrauen und Dankbarkeit an. Ich übergab ihr einen Schlüssel zur Kiste und behielt den anderen. Mit einer Geste, als würde ich ihr ein kostbares Geschenk überreichen, sagte ich: „So findest du Geld, wenn ich nicht da bin, ohne jemanden um etwas bitten zu müssen.“

Sie sah mich lange an, dann flüsterte sie ohne ein Wort zu sprechen – nur ein einziger stummer Laut aus ihren Augen: Möge Gott dich segnen, mein Sohn…

Mit ungebrochenem Willen setzte ich mein Vorbereitungsstudium fort, als brenne tief in mir ein stilles Feuer, das niemals erlischt. Ich bestand die siebte und achte Klasse, ohne auch nur ein Stück meiner Leidenschaft zu verlieren. Ich balancierte zwischen Schulheften, Lesebüchern und der Anstrengung meiner Sommerarbeit, die für mich eine Brücke war – hin zu etwas, das man Unabhängigkeit nennt.

Diese Sommerarbeit war trotz ihrer Härte ein Lebenssaft in meinen Adern, der mich unterstützte, meinen Traum weiterzuverfolgen, und mir eine Portion Selbstrespekt schenkte. Ich streckte niemandem die Hand entgegen, sondern öffnete mein Herz für das, was ich liebte.

Als der Sommer der neunten Klasse kam, jener Sommer, in dem ich mich auf das Abschlusszeugnis vorbereitete, überkam mich ein seltsames Gefühl… Etwas wie frühe Reife oder vielleicht der Wunsch, mir selbst zu beweisen, dass ich wählen kann.

So einigte ich mich mit einem Arbeitskollegen in der Werkstatt darauf, nicht länger als angestellte Arbeiter unter jemand anderem zu arbeiten, sondern auf eigene Rechnung zu handeln. Wir schlossen eine einfache, mündliche Partnerschaft – den Lohn teilten wir gerecht: Unsere Mühe trugen wir, und der Segen kam von Gott.

Muna fragte mit bewundernden Augen: „Hast du ihm wirklich vertraut? Ich meine… Partnerschaften sind doch nicht immer erfolgreich!“

Numan lächelte und nickte: „Zwischen uns gab es ein Wort der Vereinbarung… Und dieses, Muna, war stärker als jeder Vertrag.“

Er fuhr fort: „Drei Sommerferien lang arbeiteten wir so. Wir schufteten und mühten uns, teilten die Anstrengung wie auch den Traum – einen Traum, der wie ein heißes Stück Brot war, das wir gemeinsam bissen, sodass keiner von uns allein hungerte.

Doch nachdem ich die Abiturprüfung bestanden hatte, verlangte etwas in mir nach einer Pause. Nicht nur der Körper war müde, auch der Geist sehnte sich nach einer kleinen Ruhe.

So beschloss ich, mich auf die nächste Etappe vorzubereiten: die Universität. Ich gab die Schmiedearbeit auf – jene Arbeit, die meine Tage mit dem Glühen des Eisens und der Hitze der Sonne färbte und Spuren auf meinen Händen hinterließ, die nicht mehr verschwinden würden.

Zum Glück hatte ich genug gespart. Still bereitete ich alles vor, wie Wurzeln, die in der Erde graben, bevor ein Baum wächst. Ich kaufte die Studienbücher und alles, was ich für die kommenden Jahre brauchen würde, ohne mich erneut der Mühsal der Sommerarbeit auszusetzen.“

Herr Ahmed runzelte leicht die Stirn, seine Stimme klang nachdenklich:

„Moment mal… Du hast erwähnt, dass dein Vater sehr arm war, richtig? Aber ich habe gehört, dein Großvater, also der Vater deines Vaters, war wohlhabend… Und ihr habt doch alle im selben Haus gewohnt? Im Haus deines Großvaters? Warum konnte er dann nicht für deine Ausgaben aufkommen, zumindest für deine Ausbildung?“

Numan lächelte – ein Lächeln, das aus einer fernen Ecke seines Herzens zu kommen schien – und antwortete:

„Eine berechtigte Frage, Onkel Ahmed… Aber die Wahrheit lässt sich selten in einem einzigen Satz erzählen. Ja, mein Großvater war wohlhabend, und das Haus gehörte ihm. Wir lebten in einem kleinen Flügel davon. Aber mein Vater… er war ein anderer Typ Mensch. Er wollte niemandem zur Last fallen, nicht einmal seinem eigenen Vater. Und vielleicht – das wurde mir später klar – gab es zwischen ihnen nie wirklich Einvernehmen. Mein Vater zog es vor, ein ehrlicher Armer zu sein, als ein reicher Abhängiger… Und ich habe diese Entscheidung respektiert, auch wenn sie mir wehgetan hat.“

Ein kurzer Moment der Stille trat ein, als ob die Worte selbst von der Tiefe der Bedeutung ergriffen wären, bevor Muna leise sagte:

„Ich glaube, ich verstehe jetzt besser… Wenn ein Traum so erzählt wird, wird er nicht nur eine Idee, sondern jemand, den man lieben kann.“

Numan blickte in die Ferne, als ob er eine Erinnerung heraufbeschwören wollte, und sagte:

„Ja… ihr habt recht. Aber lasst mich euch eine andere Geschichte erzählen… Eine, die an der Schwelle des Bewusstseins beginnt, als das Leben begann, sich in mir zu regen.“

Er lehnte sich zurück und fuhr mit einer Stimme fort, die mehr erzählte als sprach:

„Es war an einem heißen Sommertag… Meine Mutter nahm mich mit ins Bad, wusch mich sanft mit Wasser und Seife, ihre Berührungen waren voller Zärtlichkeit. Doch als der weiße Seifenschaum über mein Gesicht lief, gelangte etwas davon in meine Augen… Ich schrie laut auf, weinend vor Schmerz.

Meine Mutter eilte herbei, wischte mir mit zitternden Händen das Gesicht ab, küsste mich, als wollte sie den Schmerz mit ihren Lippen lindern.“

Muna, deren Augen vor Emotionen glänzten, sagte:

„Oh Gott… Nichts gleicht der Berührung einer Mutter, wenn der Schmerz in den Augen sitzt!“

Numan lächelte und fuhr fort:

„Nach dem Bad zog sie mir sorgfältig ausgewählte Sommerkleidung an, als würde sie mich mit einem feinen Pinsel malen. Eine kurze Hose in der Farbe der Blüten eines kleinen Baumes, der neben unserer Küchentür wuchs, mit schmalen Hosenträgern und einem Gürtel in der Farbe der Blätter desselben Baumes. Das Hemd war mit kleinen sommerlichen Knöpfen verziert, unter denen sich eine breite, helle Schleife verbarg, als hätte meine Mutter eine Blume auf das Fenster unseres Esszimmers gelegt.“

Munis Vater lachte kurz auf und sagte:

„Ich kann es mir bildlich vorstellen! Deine Mutter war eine Künstlerin mit Stoffen!“

Numan nickte langsam, mit einem Lächeln, das wie eine leise Erinnerung auf sein Gesicht trat. „Sie war eine Künstlerin der Liebe… Selbst die Schuhe – sie waren leicht, mit kurzem Schaft und zwei kleinen Schleifen an den Seiten, als vervollständigten sie nicht nur das Bild eines Kindes, sondern das eines lachenden Morgens.“

Er atmete ruhig durch, fast wie jemand, der einen Duft aus der Vergangenheit einatmet, und fuhr fort: „Aus einem kleinen Flakon ließ sie ein paar Tropfen eines zarten Parfüms in ihre Handflächen gleiten und strich mir damit übers Haar und über die Kleidung. Ich nieste mehrmals, woraufhin sie lachte und mein Gesicht mit einem weichen Tuch abtupfte – einem, das sie eigens dafür bereitgelegt hatte.“

Muna lächelte neckisch: „Also warst du ein richtiges Verwöhnkind, Numan!“

Er erwiderte das Lächeln – warm und voller Anmut: „In den Armen meiner Mutter war die ganze Welt verwöhnt – mit mir.“

Dann fuhr er sanft fort: „Sie trug mich zur Haustür und sagte mit einer Stimme, die so weich war, als wäre sie aus Licht: ‚Setz dich hierhin und warte ein wenig… Gleich kommt jemand, den dein Vater geschickt hat, um dich abzuholen.‘

Ich setzte mich auf ein kleines Holzstühlchen, das sie mit großer Sorgfalt direkt vor die Tür gestellt hatte. Sie blieb dahinter stehen, sah mich durch das Glas an – mit Augen, die vom Warten durchzogen waren… Augen, die sich tief in mein Gedächtnis gegraben haben, als hätten sie sich nie ganz geschlossen.“

”Ein paar Minuten vergingen – nicht mehr – da rollte das Auto meines Vaters heran. Ich kannte es: lang, glänzend, fast wie ein Schiff aus einem Traum. Der Fahrer stieg behände aus, lächelte und sagte: „Lehrerin… Numan ist gut bei mir aufgehoben.“

Dann hob er mich mit beiden Armen hoch, setzte mich in einen speziellen Kindersitz, den mein Vater extra für mich hatte anfertigen lassen – als hätte er gewusst, dass ich gleich einschlafen würde.“

Munas Vater schüttelte schmunzelnd den Kopf: „Dein Vater hat selbst in der Autopolsterung an dich gedacht!“

Numan lachte leise. „Für ihn war ich der einzige Lichtpunkt inmitten eines langen Tages.“

Dann wurde seine Stimme weicher, fast schläfrig: „Das Auto glitt sanft über die Straße… Kaum waren wir unterwegs, schlief ich ein. Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich im Arm meines Vaters. Er fuhr mit einer feuchten Hand über mein Gesicht, streichelte mich, als wäre ich sein kleiner Schatz.“

Er machte eine kurze Pause, bevor er weitererzählte: „Der Laden meines Vaters lag im Herzen der Stadt, in der Al-Dschalaa-Straße, direkt gegenüber der großen Moschee. Ein weiter Raum, erfüllt von Bewegung und Leben. Ich sah Männer, wie sie schwere Holzkisten von einem langen Lieferwagen abluden – sie stapelten sie sorgfältig entlang der rechten Wand.“

Im Inneren… reihten sich Werkzeuge und Nähmaschinen verschiedenster Größen, alle mit demselben Namen graviert – ein stiller Stolz, der von jedem Gehäuse sprach, als wollten sie rufen: „Dieser Ort gehört uns… und dieser Junge wird einmal etwas Großes sein.“

Numan sprach mit einem Unterton leiser Freude, als würde er einen verborgenen Vorhang zur Seite schieben und eine Szene aus der Tiefe seines Gedächtnisses freilegen: „Ich erinnere mich genau an diesen Moment… als mein Vater mich auf einen kleinen Holzstuhl setzte und mich auf die große Schreibtischplatte hob. Der Stuhl schwankte unter meinem schmalen Körper, als wüsste er nicht recht, wie er mich tragen sollte.“

Muna lächelte, lehnte sich ein wenig zu ihm, als wolle sie das Bild in ihrer Vorstellung nachzeichnen: „Hat er dich wirklich auf den Schreibtisch gesetzt? Als hätte er dich von Anfang an als kleinen Geschäftspartner gesehen.“

Numan nickte und antwortete: „Vielleicht sah er in mir ein Stück seines eigenen Traums. Vor mir stand ein schwarzes Telefon mit Drehscheibe – für mich damals eine magische Maschine, die ein rätselhaftes Brummen von sich gab. Daneben stand ein schwerer Stahlschrank, beinahe unwirklich… für mich war er wie eine Schatztruhe, die nur die Augen meines Vaters öffnen konnten.“

Munās Vater sagte mit einem nachdenklichen Nicken: „In großen Schränken wohnen manchmal kleine Träume.“

Numan fuhr fort, während sein Blick an einem Punkt an der Wand haften blieb, als lese er dort die vergangene Zeit ab: „Links vom Schreibtisch stand ein kleinerer Tisch, überzogen mit verstreuten Papieren und alten Heften. Dahinter saß ein Mann im Alter meines Vaters, vertieft in Zahlen, die er in zerfledderte Seiten schrieb – vorsichtig, fast ehrfürchtig, als würde er seine Erinnerung ordnen.“

„Zwischen beiden Schreibtischen verlief ein schmaler Gang, der Bewegung ohne Lärm erlaubte. Und draußen, am Bordstein, stand das Auto meines Vaters – stolz, unbewegt, fast so, als würde es ebenfalls auf ihn warten.“

Muna flüsterte: „Als hätte alles im Laden auf ihn gewartet… selbst die Dinge, die keine Seele haben.“

Numan lächelte still und sprach weiter mit ruhiger Stimme: „Ich beobachtete ihn, wie er sich mit Leichtigkeit zwischen Gesprächen mit den Arbeitern bewegte, kurze Zeichen mit dem Mann hinter dem Tisch austauschte, und Telefonate über das runde Wählgerät führte. Ich folgte ihm mit meinen Augen, verfolgte jede Bewegung, zeigte hin und wieder auf das Auto – in der kindlichen Hoffnung, er würde mich bemerken und mitnehmen… Doch seine Aufmerksamkeit war überall zugleich, schwer und dicht – und so schlief ich wieder ein.“

„Als ich erwachte, lag ich in den Armen meiner Mutter. Sie trug mich durch einen dunklen Gang in mein Bett – ein stiller Raum, erfüllt vom Duft einer alten Geborgenheit.“

Eine kurze Stille legte sich über die drei, bevor Munas Vater leise sagte: „Wie schön es ist, wenn kleine Momente des Verschwindens… Tore zu unvergesslichen Erinnerungen werden.“

Numan nickte nachdenklich und begann dann zu erzählen: „Eines Tages kam ein einfacher junger Mann, trug mich auf seinen Armen und trug mich durch enge Gassen. Er murmelte Worte, die meine Ohren noch nie zuvor gehört hatten – etwas klang wie ein Gebetsruf, anderes wie ein unbekanntes Volkslied.“

Muna lachte, beugte sich leicht zu ihm: „War das dein erstes Treffen mit den Gassen?“

„Es war mein erstes Treffen mit der Kindheit, wenn sie plötzlich in eine Welt gestoßen wird, die sie noch nicht kennt“, antwortete er mit einem Seitenblick auf sie. „Wir erreichten einen kleinen Laden. Mein Vater stand darin, neben einem hohen Stuhl, auf dem ein Mann vor einem breiten Spiegel saß. In Vaters Hand lagen eine Schere und ein Kamm. Auf den einfachen Holzstühlen warteten andere Männer geduldig auf ihren Schnitt.“

Munas Vater runzelte die Stirn, erstaunt: „War dein Vater Friseur oder Händler?“

Numan lächelte und zuckte mit den Schultern: „Beides. Händler, Friseur, Handwerker… alles auf einmal. Nur damit ich eines Tages niemanden brauche.“

„Der junge Mann setzte mich auf einen kleinen Hocker neben einem schlichten Tisch. Darauf stand ein altes Telefon mit Wählscheibe, daneben ein alter Petroleumkocher, zwei Teekannen und ein Tablett voller kleiner Teegläser.“

„Die Gespräche im Raum waren leise, von gelegentlichem Lachen durchbrochen, aber dahinter lag eine dichte Stille – als würde jeder seine eigenen Geheimnisse unter dem Hemd tragen.“

„Kaum hatte mein Vater dem Kunden die letzten Haarspitzen geschnitten, eilte der junge Mann herbei, schwenkte eine kleine Bürste und rief mit einer Stimme, die wie ein fester Bestandteil des Raumes klang: ‚Naʿīman, Sīdi!‘ – Möge es dir wohlergehen, mein Herr!“

„Dann begann er, die Haare sorgfältig vom Boden zusammenzukehren. Der Kunde zog währenddessen seine Jacke an, griff in seine Tasche, holte eine kleine Münze hervor und legte sie in die Hand meines Vaters – und eine zweite in die des jungen Helfers.“

Muna fragte mit einer Stimme, in der eine feine Erschütterung mitschwang: „Hast du damals Stolz empfunden? Oder eher ein Gefühl des Fremdseins?“

Numan antwortete leise, fast wie im Flüsterton: „Ich fühlte, dass ich dazugehörte… zu einem kleinen Laden, zu einer Schere, zu einem Mann, der mir, ohne zu fragen, einen stillen Ruhm schenkte, den ich damals noch nicht begreifen konnte.“

Ein kurzes Schweigen senkte sich über die Runde – nicht leer, sondern wie ein Raum, der sich bereitmacht, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Numans Worte hatten etwas in sich getragen – einen feinen Staub, der sich nicht einfach abschütteln lässt. Er haftete an der Seele, wie eine Erinnerung, die nie ganz vergeht.

Munās Vater wandte sich Numan zu. In seinen Augen flackerte ein merkwürdiges Licht, als habe sich ein Gedanke in seinem Inneren zu formen begonnen. Mit bedächtiger Stimme, ein wenig zögerlich, fragte er: „Numan… erinnerst du dich an den Mann, der hinter dem anderen Schreibtisch saß? Den, von dem du sagtest, er sortierte Papiere und machte Notizen?“

Numan überlegte kurz, dann nickte er: „Ja, ich erinnere mich gut. Es war (—–). Ich wusste damals nicht, wer er genau war – nur, dass er oft mit meinem Vater über Zahlen sprach, über Abrechnungen.“

Die Lippen des Vaters verzogen sich leicht, wie bei jemandem, der das letzte Puzzlestück endlich gefunden hat. Er sprach langsam, beinahe zu sich selbst, dann an seine Tochter gewandt: „Ich habe es geahnt… alles passt zusammen. Der Name. Die Rolle. Sogar das Verschwinden.“

Muna blinzelte überrascht: „Wovon sprichst du, Baba?“

Er richtete sich auf, legte seine Hand an den Rand des Tisches, als wolle er sich innerlich sammeln, bevor er ein Geheimnis lüftete, das zu lange in der Tiefe geschlummert hatte. „Ich meine… Numans Vater war nie einfach nur ein Friseur. Er gehörte früher zu den großen Kaufleuten des Landes. Sein Laden in der Dschalaastraße, in der Stadt Douma, war weithin bekannt – einer der wichtigsten Händler für Haushaltswaren. Ich habe damals in Beirut gearbeitet, für eine Firma, die mit ihm Geschäfte machte… ja, ich erinnere mich jetzt genau. Ich war dafür zuständig, die großen Lastwagen zu organisieren, die seine Ware nach Syrien brachten.“

Er wandte sich Numan zu, seine Stimme nun noch leiser, fast verschwörerisch: „Und der Buchhalter, den du erwähnt hast… (—–), er war berüchtigt. Einer der Hauptverdächtigen in einem großen Betrugsfall. In den späten Fünfzigern verschwand er plötzlich aus dem Land – mit ihm ganze Konten und Bilanzen, die nie vollständig aufgedeckt wurden. Weder das Gericht noch die Sicherheitsdienste konnten seine Spur finden.“

Muna schnappte hörbar nach Luft: „Du schwörst… dass er es wirklich war?!“

Ihr Vater nickte mit ruhiger Bestimmtheit: „Mit voller Gewissheit. Was ich von Numan in unseren letzten Gesprächen gehört habe, ergab ein klares Bild. Ich habe ihm zugehört, ohne zu unterbrechen – jedes Detail in meinem Gedächtnis behalten, bis heute endlich alles zusammenpasste.“

Er wandte sich Numan zu, und in seinem Blick lag eine Mischung aus stillem Respekt und leisem Bedauern. „Dein Vater, mein Junge, ist nicht gefallen, weil er versagt hätte – sondern weil ihn jemand verraten hat, dem er am meisten vertraute. Wäre dieser Buchhalter nicht gewesen… er wäre geblieben, wo er war. Ein angesehener Mann, an der Spitze seines Geschäfts. Doch er verlor alles – in einem einzigen Augenblick: das Kapital, das Vertrauen, die Übersicht über die Konten. Vom Gläubiger wurde er zum Schuldner.“

Er schwieg einen Moment, dann fuhr er mit tieferer Stimme fort: „Und als die Banken ihn verfolgten, lief er nicht davon. Er blieb. Und begann, seine Schulden zu begleichen – Pfund für Pfund. Mit einer Schere. Und einem kleinen Kamm. So kaufte er sich seine Würde zurück.“

Numan senkte den Kopf. Seine Augen kämpften mit einer heißen Träne, die nicht wusste, ob sie dem Stolz galt – oder dem Schmerz.

Muna flüsterte mit zarter Stimme: „Baba… warum hast du uns das nie erzählt?“

Ihr Vater lächelte traurig: „Weil ich es damals nicht sicher wusste. Doch jetzt weiß ich es. Ich weiß, dass wir hier mit dem Sohn eines Mannes sitzen, der sich eine Leiter aus seiner eigenen Hand gebaut hat – um sich aus dem Schmerz emporzuheben. Er hat nicht geklagt. Nicht gejammert. Er hat einfach neu angefangen. Still. So, wie es nur die Großen tun, wenn sie zerbrechen, aber nicht aufgeben.“

Er legte seine Hand sanft auf Numans Schulter. „Er hat dir vieles verschwiegen, mein Junge – nicht aus Angst, sondern weil er nicht wollte, dass du eine Last trägst, für die du noch nicht geschaffen warst.“

Numans Lippen zitterten. Doch er sagte nichts. Das Schweigen war stärker. Tiefer.

Muna sah zwischen ihrem Vater und Numan hin und her – mit einem neuen Blick. Darin lag Erstaunen. Und Ehrfurcht. Und etwas anderes… etwas Namenloses, das jedoch in ihren Augen vollkommen deutlich war.

Sie wollte die Schwere des Moments lösen, dem Staunen ein wenig Luft machen – und schenkte Numan ein sanftes Lächeln. „Erzähl weiter, Numan… Vielleicht hilft uns das, diesen Augenblick besser zu fassen.“

Numan atmete langsam ein – als würde er etwas Fernes, Kostbares zurückrufen. Dann sprach er, mit einer Stimme, die mehr nach innen als nach außen zu lauschen schien: „Eines neuen Sommers begann ich, mich heimlich zur Haustür zu schleichen – ohne dass meine Mutter es bemerkte. Ich wartete auf jemanden, der mich an die Hand nehmen und zu meinem Vater führen würde. Aber wenn das Warten zu lang wurde und niemand kam… Dann machte ich mich allein auf den Weg. Zögernd. Als würde ich in einem verlorenen Traum gehen.“

Er senkte kurz den Kopf, dann fuhr er fort, mit einem Glanz in den Augen, der zwischen Licht und Schatten schwankte: „In der sengenden Hitze stützte ich mich auf einen großen Stein vor dem Haus einer Verwandten meiner Mutter. Der Stein war mir nicht fremd. Auch nicht die Tür. Ich war einmal mit ihr dort gewesen – zu einem kurzen Besuch, an den ich mich kaum erinnere… außer an ihr Lächeln, als sie die Frauen im Innenhof zum Lachen brachte. Vom langen Warten überkam mich die Müdigkeit, und ich schlief auf dem Stein ein. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging… bis eine warme Hand mich sanft weckte. Es war dieselbe Frau. Sie nahm mich in den Arm und führte mich in ihr Haus. Sie legte mir ein Sofa unter den Schatten eines hochgewachsenen Feigenbaums – dessen Äste sich weit über den Innenhof ausbreiteten.“

Muna sah ihn mit einem Blick an, in dem Zärtlichkeit und Mitleid miteinander flüsterten. „Ihr wart also arm… und doch erzählst du es, als wäre es ein schöner Traum.“

Numan lächelte schwach. „Ich wusste es nicht. Was Armut bedeutet – oder ob wir überhaupt arm waren. Aber wir waren nicht gebrochen.“

Munas Vater schaute seine Tochter an – still bewundernd. In Numans Worten schien er mehr zu hören als nur eine Geschichte.

Numan fuhr fort: „Ich schlief dort oft stundenlang. Und wenn ich aufwachte, hatte ich das Gefühl, nie fort gewesen zu sein. Alles war mir vertraut – alles, außer meinem Vater, der fehlte. An einem kühlen Abend, gegen Ende jenes Sommers, hatte ich gerade meinen vierten Geburtstag gefeiert. Ein großer Lastwagen kam, und er lud unser Bett, unsere Möbel – selbst das Kochgeschirr wurde nicht zurückgelassen. Mein Vater saß neben dem Fahrer, hielt meine Mutter im Arm. Daneben meine kleine Schwester, und mein Baby-Bruder, dessen Augen sich gerade erst öffneten. Sie boten mir an, mich vorn zu ihnen zu setzen – aber ich bestand darauf, hinten bei meinem Bett zu bleiben.“

Hier runzelte Munas Vater leicht die Stirn und fragte leise: „Du wolltest nicht bei ihnen sein?“

Numan schüttelte den Kopf. „Ich wollte einfach nur dort bleiben, wo ich mich selbst noch finden konnte… bei meinen kleinen Dingen. In einer Welt, die ich kannte.“

Dann fuhr Numan mit leiser Stimme fort: „Mein Vater deckte mich mit einer dicken Decke zu – aus Angst vor der Kälte der Nacht. Ich lehnte meinen Kopf an mein kleines Kissen und schlief ein – begleitet vom dumpfen Stöhnen der vibrierenden Karosserie. Als ich mit den ersten Strahlen des Morgens erwachte, lag ich – mit allen anderen – in einem Raum, der meinen Augen und meiner Seele fremd war. Ich zögerte, das Bett zu verlassen. Für einen Moment glaubte ich zu träumen. Ich streckte die Hand nach meiner Schwester aus, weckte sie flüsternd: ‚Wo sind wir?‘“

Halb im Schlaf murmelte sie: „Zum… Futter…“ Und fiel sofort wieder in den Schlaf.

Ich begriff, dass alle bei mir waren – das beruhigte mein Herz. Ich blieb unter der Decke liegen und beobachtete meine Mutter, wie sie aufstand und begann, einige der verstreuten Möbel zurechtzurücken. Leise rief ich: „Mama… Kann ich dir irgendwie helfen?“ Sie drehte sich zu mir um, atmete tief aus und sagte mit einem Ausdruck stiller Müdigkeit: „Du kannst noch nichts tun – nicht bevor unser neues Zuhause bereit ist.“

Verwirrt schaute ich mich um. „Du meinst… dieses zerfallene Haus wird unser Zuhause sein?!“

Sie lächelte schwach – aber entschlossen – und antwortete: „Es ist unser neues Zuhause. Und jetzt sei still… und versuch noch ein wenig zu schlafen.“

Ein Moment der Stille trat ein – als würden selbst die Wände zuhören.

Da sagte Muna leise, während sie ihren Vater ansah: „Stell dir vor, Papa… Man beginnt seine Reise auf einem Stein – und wacht plötzlich in einem Haus auf, das man nicht kennt.“ Ihr Vater antwortete halblaut, fast wie zu sich selbst: „Es sind nicht die Häuser, die man verliert, meine Tochter… sondern die Gewissheit, seinen Platz in der Welt zu kennen.“

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